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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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zählte zweifellos zu den scharfsinnigsten und feinfühligsten Auslegern, die George gefunden hat. Seine umfassende Bildung, die spielerische Art, in der er komplizierteste Fragen zu behandeln wusste, und nicht zuletzt persönliche Bescheidenheit und menschliche Wärme ließen ihn für George zu einem anregenden Gesprächspartner im Berlin der Jahrhundertwende werden. Beeindruckt von dem leidenschaftlichen »Erkenntnissucher«, fand er Worte höchsten Lobes für Simmel, der, wie es ein Vierteljahrhundert später bei Wolters hieß, »der einzige echte Philosoph seiner Zeit« gewesen sei. 72 Andererseits verspürte George angesichts der Simmelschen Zergliederungen immer ein gewisses Unbehagen. »Ich verstehe nicht eine Zeile davon«, sagte er über den Aufsatz in der Zukunft . 73 Als sich Simmel im April 1898, wenige Wochen, nachdem sein Artikel erschienen war, in einem Gespräch in Rom »die Bestätigung für die Richtigkeit seiner Ansichten holen« wollte, habe ihm George lachend erklärt, »es gäbe keine Zeile seiner Gedichte, die nicht ganz erlebt sei«. Dadurch sei Simmel so in Verlegenheit gebracht worden, dass er seine Theorie habe revidieren müssen. 74
    Tatsächlich verwischte Simmel in einem weiteren George-Aufsatz zwar die ursprüngliche Grenzziehung zwischen Erlebnis und Dichtung, die Tendenz seiner Kunstauffassung aber trat dabei nur noch schärfer heraus. Alle Kunst, hieß es jetzt, sei »gegenüber dem lebendigen Dasein ihres Gegenstandes« resignativ. Sie versage sich »das Auskosten« der Realität, um dem Dasein am Ende doch »mehr zu entlocken, als es eigentlich selbst besitzt«. In diesem ständigen Wechsel, bei dem sich Verzicht und Kreativität gegenseitig bedingten, liege der eigentümliche Reiz jeder künstlerischen Existenz und so auch des frühen George. Mit dem Jahr der Seele habe dann zum ersten Mal »die Resignation die Gefühlsgrundlage selbst ergriffen: alle Bewegungen und Vertiefungen der Liebe, die dies Buch erfüllen, stehen im Zeichen der Resignation, sie werden gleich an ihrer Quelle von dieser gefärbt.«
    In dieser Argumentation ließ sich die These von der Entpersönlichung des Lebens durch die Kunst, die sich in Georges Werk vollziehe, noch einmal zuspitzen. Aus dem frühen Willen zur reinen Form
leitete Simmel jetzt ein ästhetisches Prinzip ab, in dem er das ästhetische Prinzip der Moderne erkannte. Oberstes Ziel der Kunst müsse es sein, alles Stoffliche zu eliminieren und das Ereignis, von dem der Schaffensprozess seinen Ausgang nehme, »den Rohstoff des Gefühles«, so lange umzuschmelzen, bis er jegliches Eigenrecht verliere und »der ästhetischen Formung keine Grenze mehr durch sein Fürsichsein setzt«. Am Ende würden sowohl das dem Kunstwerk zugrunde liegende reale Erleben als auch der durch das Kunstwerk vermittelte Gehalt nur noch als störend und überflüssig empfunden werden. 75
    Durch Simmel wurde George auf Fragen gestoßen, die er sich wohl nie gestellt hätte, deren Klärung aber zu seiner Positionsbestimmung beitrug. So las sich die Vorrede zum Jahr der Seele , die er Ende 1898 der öffentlichen Ausgabe voranstellte, wie eine Zusammenfassung ihrer römischen Gespräche vom April. Es sei völlig unerheblich, hieß es dort, welche Personen und Örtlichkeiten die Gedichte des vorliegenden Bandes veranlasst hätten. Der Leser solle »vermeiden sich unweise an das menschliche oder landschaftliche urbild zu kehren: es hat durch die kunst solche umformung erfahren dass es dem schöpfer selber unbedeutend wurde«. War nicht eben das Simmels Forderung gewesen?
    Und dennoch: In ihrem Denken hätten George und Simmel nicht gegensätzlicher sein können. Simmel kam von Kant, über den er 1885 seine erste Vorlesung gehalten hatte. In der Tradition Kants war Erkenntnis lediglich aus den Beziehungen der Gegenstände untereinander und aus deren Verhältnis zum erkennenden Subjekt möglich. Eine Wahrheit in der absoluten Bedeutung des Wortes konnte es folglich nicht geben. Davon überzeugt, »dass sich von jedem Punkte der gleichgültigsten, unidealsten Oberfläche des Lebens ein Senkblei in seine letzten Tiefen werfen lässt, dass jede seiner Einzelheiten die Ganzheit seines Sinnes trägt und von ihr getragen wird«, erhob Simmel den Relativismus Mitte der neunziger Jahre zum Erkenntnisprinzip. 76 Dabei stellte er allerdings schon bald fest, dass die Unsicherheit und innere Unruhe des modernen Individuums sich nicht aus »der
äußeren Hast und Aufgeregtheit« erklären

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