Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
anonym erschienenen Artikel, von denen viele bei gleicher Qualifikation nie mit einer Professur rechnen könnten. »Ich kenne Privatdocenten, die in diesem Fegefeuer einer ewigen Spannung … einer als unwürdig und dauernd provisorisch empfundenen Position innerlich zugrunde gegangen sind.« 67 Der rauhe akademische Verdrängungswettbewerb sorgte für zusätzliche Spannungen zwischen den sich damals in zahlreiche Einzeldisziplinen ausdifferenzierenden historischen Kulturwissenschaften »und der sich allmählich als autonome Disziplin konstituierenden modernen Soziologie«. 68
Im Streit um die Deutungskompetenz ging es zwangsläufig immer wieder um die gesellschaftliche Stellung des Künstlers und die Funktion von Kunst. Von daher war es nicht verwunderlich, dass einige der brillantesten Köpfe der Berliner Universität den neuen Dichter, der ihnen die Spitze der Avantgarde verkörperte, in ihrem Sinn zu interpretieren suchten. Die gegensätzlichen George-Positionen Dessoirs und Simmels zeugen von der »produktiven ›Wechselwirkung‹ zwischen dem genuin ästhetischen Diskurs und der beginnenden kultursoziologischen Diskussion«. Während Dessoir vor jeder »Überschätzung der Individualität« warnte und betonte, »dass die Kunst zu allen Zeiten ein sociales Phänomen« sei, 69 feierte Simmel in George den Sieg des Individuellen als des Normativen. Binnen kurzem beteiligten sich an dieser Diskussion die führenden Germanisten Gustav Roethe und Erich Schmidt, der Ordinarius der philosophischen Fakultät Wilhelm Dilthey, der Basler Kollege Karl Joël sowie Simmels Korrespondenzpartner in Freiburg, der Philosoph Heinrich Rickert, der wiederum den Kollegen Weber mit der Dichtung Georges bekannt machte.
Simmels 1898 in der Zukunft veröffentlichter Essay war nicht nur der erste ernst zu nehmende Versuch, Georges Poetik kunstphilosophisch zu formulieren. Er war auch der erste Ansatz, aus der Dichtung Georges Grundzüge der modernen Lyrik zu erschließen; die Simmel-Schülerin Margarete Susman griff 1910 in ihrer Schrift Das Wesen der modernen deutschen Lyrik diesen Ansatz auf und führte
am Beispiel Georges den noch heute verwendeten Begriff des »lyrischen Ich« ein. Zunächst verwies Simmel den Kollegen Meyer in die Schranken, indem er die Philologie zu einer bloßen Hilfswissenschaft erklärte und ihr jede Befähigung absprach, die tiefere Bedeutung eines Kunstwerks zu erfassen. Simmels Interesse erwuchs aus den aktuellen Fragen seines Philosophierens und richtete sich auf den Künstler als solchen. Bisher sei es der Zweck der Lyrik gewesen, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, um dadurch wiederum Gefühle zu erregen. Mit der Dichtung Georges werde erstmals »das Gefühl zu einem Mittel für den Kunstzweck«. Dadurch dass der Dichter sich »von allen subjektiv-natürlichen Gefühlsreflexen um der Kunst willen« befreie, erreiche er jenes »Objektiv-Werden des Kunstgefühles«, das »die Herrschaft des Poeten über die Welt vollendet«.
Ich gestehe: mir ist erst durch die Kunst Stefan Georges klar geworden, wie viele Gedichte der Literatur es gar nicht nötig hätten, gerade Gedichte zu sein … Bei den Gedichten Georges hat man den Eindruck, dass ihr Inhalt durchaus in keiner anderen Form als in der poetischen gesagt werden kann; es wirkt also in ihnen kein der Kunstform gegenüber selbständiger Reiz ihres Stoffes mit … In allen Künsten bedeutet die Befreiung von dem Beisatz stofflicher Reize eine Verfeinerung und Reinheit der ästhetischen Durchbildung … Und dies eben erscheint mir als das Eigenartige und Bedeutsame an Stefan George: dass gerade das, was am Gedicht reines poetisches Kunstwerk ist, mehr als irgendsonst das Ganze ausmacht, unter reinlicher Ausscheidung aller Nebeneffekte. 70
Mit dieser Präzisierung des ästhetischen Prinzips bei George hätte Simmels Aufsatz früh zur Klärung des l’art pour l’art in Deutschland beitragen können. Die anspruchsvollen Auslassungen des Außenseiters fanden jedoch, trotz Simmels früher Popularität, nur wenig Beachtung. Unter den bestallten Vertretern der deutschen Philologie wurde George noch auf Jahre als »Fanatiker der Pose und des guten Geschmacks« (Alfred Biese 1910) bezeichnet, dessen Dichtung nichts sei als »feierlicher Unsinn in wohlgefügten Versen« (Eduard Engel 1908). »Da galt ich für den salbentrunknen prinzen / Der sanft geschaukelt seine takte zählte«, kommentierte George spöttisch die Verdikte der Kathedergelehrten. 71
Georg Simmel
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