Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
er Anfang
September an Ida Coblenz, dass sein Leben jetzt »von einem ganz anderen abgelöst wird«. Es war der Sommer, in dem sich George mit Edmond Rassenfosse eingelassen hatte und hinterher wütend darüber war, »seine Schmerzen einem jüngeren und lächelnden Bruder eingestanden zu haben«. 20 Seinen dichterischen Niederschlag fand das Abenteuer in den Gedichten, die unter dem Titel Sieg des Sommers im August des darauffolgenden Jahres in den Blättern erschienen.
Vor diesem Erlebnishintergrund entstand auch eine kleine Prosabetrachtung, mit der zwei Monate später der dritte Jahrgang der Blätter für die Kunst abgeschlossen wurde: »Eine erinnerung des Sophokles«. In Form eines fiktiven Monologs thematisierte das seltsam unbeholfene Stück »das grosse geheimnis« der Knabenliebe. Sophokles trauert. Seit Charilaos, ein Junge, mit dem er in letzter Zeit viel zusammen war, »nach einer fernen insel gezogen ist«, lässt ihn die Sehnsucht nicht mehr zur Ruhe kommen. Ein Bekannter versucht ihn aufzurichten: Der Junge habe seine Nähe nur gesucht, weil er ein berühmter Dichter sei, jetzt werde er sich aber wohl bald mit den Mädchen einlassen. Am Ende lüftet ein alter Wahrsager »das grosse geheimnis«. Obwohl Charilaos »leichter ist als ein halm auf dem wasser und unbeständiger als das wasser selbst«, dürfe Sophokles sich seiner Liebe nicht schämen: »Leide um Charilaos! weine um Charilaos! verzehre dich um Charilaos!« Es war diese leidenschaftliche Verherrlichung der göttlichen Jugend, so schließt das Stück, die einst die Größe Spartas und den Ruhm Athens begründ ete. 21
Edith Landmann hat die Skizze als die bedeutendste Dichtung im antikischen Geist bezeichnet, die sich in Georges Werk finden lasse. Dies gelte erst recht, wenn man bedenke, dass nichts an diesem Stück eine historische Entsprechung habe und alles frei erfunden sei. Zur Zeit der Entstehung der kleinen Skizze habe sich George erstmals mit seiner Liebe zu den schönen Jünglingen auseinandergesetzt, schreibt sie. Dadurch sei er zur Flucht ins historische Kostüm gezwungen worden. Die Tatsache, dass er eine so ungeheuerliche Entdeckung in keine andere Zeit als »in die klassische Zeit der Griechen« verlegen
konnte, habe »die für das Verständnis des Griechentums entscheidende« Wendung gebracht. 22
Nun hatte sich schon Winckelmann für den Apoll von Belvedere vor allem deshalb begeistert, weil er in der Beschreibung des antiken Schönheitsideals ungeniert seine Empfindungen für den männlichen Körper zum Ausdruck bringen konnte. Für die meisten Interpreten war diese Lesart jedoch peinlich. Sie übergingen seine Homosexualität, bestritten jeden ursächlichen Zusammenhang und setzten das Schöne auf Kosten der Sinnlichkeit absolut. Weil Winckelmanns »Sinnlichkeit in der Kunst aufging, ist ihre besondere Richtung und Färbung gleichgültig geworden«, lautete der puritanische Befund. 23 »Was kann nutzen, Dinge vor das Publikum zu bringen, die nur in den Beichtstuhl gehören«, ereiferte sich bereits August Wilhelm Schlegel in seiner Rezension der Goetheschen Winckelmann-Ausgabe 1812.
Nicht jeder, der sich für die Welt der Griechen begeistert, begeistert sich zwangsläufig für schöne Jünglinge. Der Umkehrschluss ist manchmal allerdings durchaus zulässig, und gerade für die Zeit um 1900 gilt, dass, wer sich für Knaben interessierte, meist auch gern nach allem Griechischen Ausschau hielt. Seit den Tagen Winckelmanns war Griechenland die universelle Projektionsfläche für sämtliche Formen homosexuellen Begehrens, »griechische Liebe« das Codewort für gleichgeschlechtlichen Verkehr, und es gibt keinen Zweifel, dass George die Konnotationen kannte. 24 Weil Homosexualität die Camouflage erforderlich machte, erlangte das antike Griechentum für ihn eine ungeheure Attraktivität. Am Ende hatte er sich so stark damit identifiziert, dass er auf die Frage, ob er nicht einmal nach Griechenland reisen wolle, tiefgründig lächelnd zur Antwort gab, wo er sei, sei doch Griechenland. 25
Für das Verständnis des Charilaos-Stückes und seine biographische Einordnung bleibt es unerheblich, ob es einen Anlass gab und um wen es sich möglicherweise handelte. 26 Beschrieben wird eine archetypische Situation in einer für den Betroffenen besonders grausamen Form: die sich verzehrende Sehnsucht eines jungen Mannes nach
einem Knaben, der die Dimensionen dieser Liebe nicht begreifen kann. Die dauernde Beklemmung, verbunden mit der
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