Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Bild des unumschränkten Herrschers im Reich des Geistigen, das Bild des Dichters als Führer.
George wusste, dass er en face derb bis zum Bäurischen wirken konnte. Aus diesem Grund ließ er sich am liebsten von der Seite oder im Halbprofil ablichten und bestimmte, welche Fotos veröffentlicht beziehungsweise durch das Atelier Hilsdorf verkauft werden durften. Als zu seinem 60. Geburtstag Fotos auftauchten, die er nicht freigegeben hatte, »sonders die von der ungünstigen seite aufgenommenen«,
beklagte er sich bitter: »die sind wahrhafte karikaturen!« 4 Erst in den letzten Jahren ließ er »private« Fotos zu. »Stefan George ist vielleicht der einzige Autor, der auf Fotos wirkt, als habe er sich nie bewegt«, meinte die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. »Reptilienhafte Reglosigkeit, nur ein kleines Pochen am Hals, das man sich als Andeutung hinzudenken mag zum Beweis, dass dieses sonderbare Geschöpf lebte. Ihm ist das Anhalten des Bildes gelungen wie sonst keinem … Jeder Dichter von Rang wird von der Furie der Besonderheit umgetrieben, aber über keinem sonst ward verhängt, in derart kunstgewerblicher Aufmachung zu erscheinen.« 5
Zu wahrer Führerschaft sei berufen, so hatte Gundolf in seinem Vorbilder-Aufsatz dargelegt, wer die Fülle der seelischen und geistigen Möglichkeiten des Menschen in sich trage. Ein Mensch, den wir groß nennen, überrage daher immer die Zeit, in der er lebe, und errege die Phantasie auch nachfolgender Geschlechter. Weil er nicht nur die gesamte Kultur seines Zeitalters repräsentiere, sondern in kulturlosen Zeiten auch die Kultur selbst, sei der große Mensch der eigentliche Exponent seiner Epoche. »In bestimmten heroen stellt sich die kultureinheit wieder her: an die stelle von gesamtkulturen treten menschen welche in sich kulturen sind und um sich her kultur schaffen.« 6 Gundolf ließ keinen Zweifel, dass er in George solch einen kulturschaffenden Heros gefunden hatte. »Es könnte sein dass eine ganze epoche nur durch ihren richter vor der nachwelt repräsentiert wird«, hatte er zwei Jahre zuvor geschrieben und beispielhaft auf das Zeitalter Dantes verwiesen. 7 »Dantes Paradies ist mehr Gegenwart als Ibsens Gesellschaftsdramen.« 8
Mit Dante hatte sich George spätestens um die Jahrhundertwende zu identifizieren begonnen; er galt ihm als derjenige, der Dichten und Herrschen gleichgesetzt hatte. So wie der Florentiner an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert als oberster Richter auftrat und mit Hilfe der Commedia seine sämtlichen Feinde in die Hölle schickte, so wollte George zum Gewissen seiner Zeit werden – »Und ganz eröffne das von dir geschaute / Lass es geschehn dass wen es beisst sich jucke«. 9 Aufgrund dieser Doppelfunktion als Dichter und Führer stehe
Dante »für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung«. 10 Mit keiner anderen Arbeit hat sich George so lang und intensiv befasst wie mit der Übertragung ausgewählter Stellen aus der Göttlichen Komödie . Von 1901 an veröffentlichte er Übersetzungsproben in den Blättern für die Kunst , 1912 erschien die erste öffentliche Buchausgabe, 1925 eine stark erweiterte vierte Auflage. Dichten war nach Georges Verständnis ein Amt, das in jeder Epoche jeweils nur einem zustand; nur dieser eine konnte die Autorität des Amtes beanspruchen, nur dieser eine durfte sich zum Richter über seine Zeit aufschwingen. Dante war das Vorbild, in ihm »fand George das erhabene Gleichnis seines eigenen Berufs«. 11
Die Identifikation ging bis ins Physiognomische. George war der Meinung, es bestehe eine auffallende Ähnlichkeit zwischen Dante und ihm, die vor allem im Profil erkennbar werde. Karnevalesker Höhepunkt des Stilisierungsprozesses war der Auftritt als George-Dante im Münchner Fasching 1904: die Ähnlichkeit der Erscheinung als höchste Legitimation. Die Maskerade diente jedoch nicht nur der Selbstverherrlichung. Während des Krieges sah er sich einmal gemeinsam mit einem Freund Jugendfotos an; da »kam ein Moment, dass er über seine Existenz wie über [die] eines Großen, Fremden erstaunt war; das naive Erstaunen des Genies über sich selbst. ›Ja, das existiert, Ernst.‹« 12 Bei aller Eitelkeit, die George zweifellos in hohem Maße zu eigen war, findet sich erstaunlich wenig Schauspielerei. Die konsequente Inszenierung des Dichters als Führer legt vielmehr den Schluss nahe, dass George sich tatsächlich so gesehen hat, wie er gesehen werden wollte.
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