Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Obwohl er die damit verbundene Prätention ablehnen müsse, schrieb Max Weber, neige er doch dazu, Georges Dante-Pathos ernst zu nehmen, denn »ein kleiner Funken jenes gewaltigen Feuers lebt auch in ihm, das scheint mir kein Zweifel«. 13
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Bevor er sich mit Beginn des neuen Jahrhunderts neuen Zielen zuwandte, hielt George erst einmal Rückschau. Dazu bediente er sich der Form eines fiktiven Dialogs mit einem Engel, einer allegorischen Figur, die er im Sommer 1895 gefunden hatte. Unter dem Titel »Der Besuch« war das spätere Eröffnungsgedicht des Vorspiels im Januar 1896 erstmals in den Blättern für die Kunst erschienen:
Ich forschte bleichen eifers nach dem horte
Nach strofen drinnen tiefste kümmernis
Und dinge rollten dumpf und ungewiss –
Da trat ein nackter engel durch die pforte 14
Der Engel gibt nur eine knappe Erklärung zu seiner Herkunft: »Das schöne leben sendet mich an dich / Als boten.« Was unter dem schönen Leben genauer zu verstehen sei, sagt er jedoch weder bei seinem ersten Besuch noch bei späterer Gelegenheit. Er ist Bote und Botschaft in einem. Schwelgte George beim ersten Auftritt des Engels noch ganz im präraffaelitischen Beiwerk der Blumenornamente, so spürte er schon bald, dass sich diese Figur entwickeln ließ. Er hoffe, dass hier nach »der oft schmerzlichen beklemmung«, in die ihn Das Jahr der Seele gestürzt habe, bald ein neuer Anfang entstehe, heißt es im Juli 1897 in einem Brief an Hofmannsthal. 15 Vier Monate später brachten die Blätter unter der Überschrift »Seit der Ankunft des Engels« vier weitere Gedichte des späteren Zyklus.
Zwischen dem Dichter und seinem Alter ego entfaltet sich jetzt ein Gespräch von erstaunlicher Intimität. »Man fühlt eine Seele ihr geheimstes Leben offenbaren, wie dem vertrautesten Freunde.« 16 Zugleich aber wird der Engel zu einer Art höherem Selbst; mit einer Stimme, »die fast der meinen glich«, beantwortet er die stürmischen Fragen des Dichters: Warum leide ich so viel mehr als andere? Warum muss ich auf das Glück der anderen verzichten? Was ist der Sinn meines Daseins als Künstler? Die Kriterien, nach denen der Engel Auskunft erteilt, sind die, nach denen der Dichter schon immer gelebt hat, auch wenn er dies bisher nur dunkel ahnte. Das »schöne Leben«
erweist sich als das seiner Vita von Anfang an eingeschriebene Grundmuster. Indem der Engel dem Geschehen nachträglich einen Sinn gibt, wird das Erlebte so umgedeutet, als wäre eine andere Wirklichkeit für George nie denkbar gewesen.
Mit dem Vorspiel , das den Dialog zwischen Dichter und Engel in 24 Gedichten in immer neuen Ansätzen entfaltet, tritt George in das entscheidende Stadium seiner Selbstfindung. Von nun an braucht er sich seiner Berufung nicht mehr zu vergewissern, das schöne Leben selbst hat ihn in Gestalt des Engels legitimiert. »Die vierundzwanzig Gedichte des Vorspiels stellen Georges Leben dar als Verwirklichung von Idealen.« In dem Maße, in dem George diese Ideale durch seine Existenz verbürge, so Gundolf weiter, müssten sie auch für alle anderen Menschen zum Maßstab werden. Schließlich handle es sich nicht um »subjektive Erfahrungen eines Herrn Stefan George«, sondern um »die gelebten Ideale« eines Menschen, der »die notwendige und richtige Form seines Daseins« gefunden habe. 17
In diesen Prozess, der das Subjektive als objektiv notwendig erscheinen lässt, ist der Leser einbezogen. Als heimlicher Zuhörer folgt er dem Dialog von Dichter und Engel etwa so, als würde er einer psychotherapeutischen Sitzung beiwohnen. Der Patient beschreibt seine Probleme: »In meinem leben rannen schlimme tage / Und manche töne hallten rauh und schrill.« Der Therapeut versucht neue Perspektiven zu eröffnen: »was jezt mein ohr so stürmisch trifft / Sind wünsche die sich unentwirrbar streiten.« 18 Die beiden Grundtendenzen des Vorspiels , die sich gegenseitig auszuschließen scheinen, der Wille zu objektiver Gestaltung und der Wunsch nach Innerlichkeit, durchdringen sich gegenseitig und verleihen dem Engel seine doppelte Dignität. »Der Engel«, so fasste es Georg Simmel in seiner Besprechung 1901 zusammen, »ist der Sinn, den das Leben in sich und zugleich die Norm, die es über sich hat.« 19
Im biographischen Kontext eröffnen sich beim Blick auf den Entstehungszusammenhang interessante Perspektiven. Im Sommer 1895, als ihm die Figur des Engels erstmals vor Augen stand, glaubte sich George an einer entscheidenden Wende. Er fühle, schrieb
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