Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Empfänger nach Lektüre verbrannt werden. Die am dichtesten überlieferte Korrespondenz, die mit Gundolf, weist an »einschlägigen« Stellen, an denen die Intimität besonders groß gewesen sein muss, grundsätzlich Lücken auf. 38 Um auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht erpressbar zu werden, verlangte er am Ende einer Beziehung in vielen Fällen seine gesamte Korrespondenz zurück. 39 Es werde einmal nur »wenige Briefe geben, aus denen irgend etwas Belangreiches über ihn zu lesen sei«. 40
Was Cyril Scott betraf, hatte George die natürliche Grenze ihrer Beziehung akzeptiert. Allerdings wirkte Scott erotisch dermaßen »anreizend« auf ihn, dass er die Hoffnung nicht aufgab, ihn doch noch zu erobern. Die Ambivalenz fasste George gleich zu Beginn ihrer Freundschaft in ein Gedicht: »Du teuer uns, doch rätsel das uns martert.« Zunächst ließ er Scott sprechen: »die klüfte zwischen uns / Erkennt wie ich als unergründbar an / Und haltet ihr geheimnis hoch – ja jubelt / Sie nie zu fassen.« Der Dichter hielt dagegen: »und wir suchen schmerzlich / Mit unsrer liebe sie zu überbrücken.« Er folge dem Geliebten gern und »ohne furcht«, denn aus seinem Antlitz dringe »der blick der sieger«. 41 Dieser Blick wies in die Zukunft. Es waren die Siegertypen à la Scott, zu denen sich George von nun an immer häufiger hingezogen fühlte: strahlende, selbstbewusste junge Männer, die genau das verkörperten, was ihm an Leichtigkeit und Anmut fehlte.
Ende 1900 kam es zu einer Krise, die zum Abbruch der Beziehung führte. Indiskretionen veranlassten George, sich gegenüber »dem kleinen Scott« verleugnen zu lassen, da dieser »unvorsichtlich und redselig ist«. 42 Scott wurde zur Persona non grata erklärt. Vier Jahre später, im November 1904 – er war inzwischen nach England zurückgekehrt -, fasste Scott den Entschluss, den Kontakt wieder herzustellen. Im Januar kam es zum Wiedersehen in Bingen. Scott brachte Übersetzungen von George-Gedichten mit, und das Eis zwischen ihnen schmolz schnell. »Mein lieber Scott, die Tage der Komplimente sind vorüber, für uns ist das nun alles ›vieux jeu‹.« 43 In den folgenden Jahren reiste Scott regelmäßig im Winter für ein paar Monate
nach Deutschland, und fast jedes Mal suchte er auch George auf, in Bingen oder Berlin. George liebte ihn noch immer und ließ sich manchmal noch immer ein wenig verwirren. »Der Scott ist ein verrückter Kerl«, pflegte er dann zu sagen. Ein bisschen meinte er wohl auch seine eigene Verrücktheit, einer unerfüllten Liebe so lange nachzuhängen.
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Im November 1899, pünktlich zum Jahrhundertwechsel, erschien im Verlag der Blätter für die Kunst die Monumentalausgabe Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel . Verwey fand den Titel ziemlich bombastisch: »Liegt es an mir? Aber mir ist so, als ob in dieser feierlichen Dreiteilung etwas Bedrohliches mitschwingt.« 44 Der Wille zur Symmetrie dominierte alles. Jeder der drei Teile enthielt 24 Gedichte mit je vier Strophen, die Strophe zu vier Zeilen, knapp die Hälfte davon kreuzweise gereimt (bei nur elf reimlosen Gedichten insgesamt). Es gab Sechsergruppen und Zwölfergruppen und eine Fülle versteckter Querverweise, die zu vielen kabbalistischen Betrachtungen verführten, welche Gedichte mit welchen wie korrespondierten.
Der Teppich des Lebens , der mittlere Zyklus, dem der Band seinen gebräuchlichen Kurztitel Teppich verdankt, besteht aus einer Reihe zum Teil sehr einprägsamer Bilder, in denen sich Motiv für Motiv der fein geknüpfte Lebensteppich entrollt, der im Eröffnungsgedicht beschrieben wird: »Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren / Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze.« Manchmal abends »wird das werk lebendig«, dann lassen sich die raffinierten Muster der Komposition für einen Augenblick erfassen. Aber die Lösung lässt sich nicht herbeizwingen, sie »ist kein schatz der gilde. / Sie wird den vielen nie und nie durch rede / Sie wird den seltnen selten im gebilde.« In den anschließenden Gedichten werden vorzeitliche, archaische Situationen evoziert – so in »Urlandschaft« (»Hier litt das
fette gras noch nie die schur«), »Der Freund der Fluren« (»Kurz vor dem frührot sieht man in den fähren / Ihn schreiten«) oder in dem fast volkstümlich anmutenden »Die Fremde«: »Sie sott und buk und sagte wahr / Sie sang im mond mit offenem haar.«
In der anschließenden Gruppe sucht George menschliche
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