Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Bombenangriff vollständig zerstört. Im Georgeschen Weinkeller, der offiziell als Luftschutzkeller ausgewiesen war, fanden etwa neunzig Menschen den Tod. 28
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Fragte man den jungen George, wenn er von seinen Reisen nach Bingen zurückkehrte, wo er denn gewesen sei, gab er nur ausweichend Auskunft und sagte etwa: am Arno. Das habe keineswegs prahlerisch geklungen, meinten die Bingener, eher beiläufig, so als hätte er gesagt, in Rüdesheim oder in Gaulsheim. Aber jedem in Bingen sei deutlich gewesen, dass George die Frage nach dem Woher als ungeziemend
empfand. Leider habe er es auch nicht für nötig gehalten, ältere Mitbürger zu grüßen, wussten Altersgenossen ein halbes Jahrhundert später übereinstimmend zu berichten, und wenn er angesprochen worden sei, habe er immer recht wortkarg geantwortet. »Da man hier, alter Tradition gemäß, etwas auf einen Gruß hielt«, sei der junge George »in Bingen nicht besonders beliebt« gewesen. 29 George seinerseits wunderte sich, von wildfremden Leuten, »die ich niemals vorher gesehen hatte«, 30 gegrüßt zu werden; einige redeten ihn sogar mit »Herr Doktor!« an. Am wechselseitigen Misstrauen änderte das nichts.
»Bei Stefan George war es sehr schön«, schrieb ein junger Besucher 1897. »Die ganze Wohnung ist sehr einfach u. provinzmäßig, sein Arbeitszimmer natürlich ausgenommen. Er hat eine Menge sehr schöner Bücher u. Bilder u. gibt einem ganz famosen Wein zu trinken. Wenn man sich an seine verschiedenen Faxen gewöhnt hat, bekommt man ihn sehr gern … Wenn er unter den Bürgern von Bingen herumstreift sieht es colossal merkwürdig aus, die Leute haben dort einen grossen Respect vor ihm so ungefähr wie die Indianer vor einem ganz besonderen Medizinmann.« 31 Ernst Robert Curtius, der George zehn Jahre später mehrmals besuchte, erinnerte sich, dass ihm der Wirt des Hotels, in dem er übernachtete, am Morgen sagte: »Mr hawwe Sie mit unserm Herrn Schorch spaziere gehe sehn.« George, so der Eindruck des Besuchers, »galt als eine Kuriosität, auf die man aber doch stolz war«. 32
Schon den Lehrern der Binger Realschule, die George von 1876 bis 1882 durchlief, war die eigenbrötlerische Art des Jungen aufgefallen. Sie wussten nicht recht, wie sie mit ihm umgehen sollten, und beschwerten sich über seinen »störrischen Eigensinn« – »Was werd nor aus dem Bub noch werde«, seufzte der Vater. 33 Dabei konnte er mit den schulischen Leistungen seines Sohnes durchaus zufrieden sein. Auch nachdem er im Herbst 1882 auf das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt gewechselt war, brachte Etienne in Deutsch und Geschichte durchweg befriedigende Noten nach Hause, ebenso in den Fremdsprachenfächern und in Geographie; in den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern wurden seine Leistungen immerhin als genügend bewertet. Nur mit dem Zeichnen und Singen haperte es, und auch das Turnen bereitete ihm so viel Missvergnügen, dass er in Darmstadt davon befreit wurde.
Zum Kernbestand früher Kindheitserinnerungen gehörten für George Ausflüge auf die Binger Höhen. Solange die Kinder klein waren, scheint die Mutter viel mit ihnen spazierengegangen zu sein: »Trug ich dich stunden-lang zur höh hinauf / Damit du sonne sähest«. 34 Später legten die Kinder ein Herbarium an. Die Mutter brachte ihnen die Namen der Blumen und Kräuter bei und belehrte sie über die Heilkraft der Pflanzen – von daher Georges Vorliebe für seltene Blumen mit seltenen Namen, die sein Frühwerk durchzieht. Schreckliche Erinnerungen behielt er dagegen zeitlebens an die häufigen Hochwasser. Im Februar und März 1876 wurde Bingen von einem Doppelhochwasser heimgesucht, das eine Periode extrem hoher Wasserstände einleitete, die im Katastrophenjahr 1882/83 den Kölner Pegel auf 10,52 Meter trieben. »Er erzählte von den Flößen und dem treibenden Eis auf der Nahe, wo er als Kind beinahe ertrunken wäre, als der Eisblock, auf dem er schwamm, mit ihm sank.« 35
Georges Vater wird als ein geselliger, lebensfroher Typ beschrieben, der gegen jedermann freundlich und zuvorkommend war und in Bingen Ansehen genoss. Durch sein Kommissionsgeschäft stand er in reger Verbindung mit Winzern und Küfern, Gastwirten und Weinhändlern. Dennoch lebte die Familie weitgehend isoliert. Das lag an der Mutter, deren düsteres, freudloses Wesen die Atmosphäre im Elternhaus prägte. »Nun bin ich schon so viele Jahre mit dieser Frau verheiratet«, klagte der Vater seinem Ältesten, »und weiß noch immer
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