Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Regieren nach, das offenbar ein recht einsames Geschäft war. Während jedes Spiel mit den Kameraden in einem fürchterlichen Kampf um die Rangordnung ausartete – ein Kampf, den er aus tiefster Seele hasste -, machte ihm im »Schilfpalast« keiner die Herrschaft streitig.
Sein imaginäres Königtum sicherte George mit Hilfe einer von ihm entwickelten Geheimsprache ab. In dieser Sprache, die er »Imri« nannte, legte er fest, was profan bleiben und dem Alltagsbereich angehören und was in dem von ihm regierten Reich Rang und Geltung haben sollte. Weil ihm die Wirklichkeit nicht genügte, »erfand er für die dinge eigne namen«. 46 Auch wenn man das spielerische Element in den kindlichen Lautmalereien des »Imri« nicht unterschätzen darf, so vergrößerte sich auf diese Weise doch der Abstand zu denen, die der Kunstsprache nicht mächtig waren. George hat »im Medium der neuen Sprache die Wirklichkeit zugleich auf eine neue Weise erfahren, ja, durch die künstliche Sprache gleichsam neu erschaffen«. 47 Auf den ersten Blick erscheint die Flucht aus der Realität als »Symptom einer Störung, die auf ein krisenhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit hindeutet«. Bei genauerem Hinsehen liegen hier die Anfänge seines dichterischen Bemühens.
Auch in Georges eigener Deutung seiner dichterischen Anfänge spielt die durch die Kunstsprache eingeleitete elitäre Wendung eine zentrale Rolle. In den Uferniederungen liegend, durch Weidenbüsche und Rohr abgeschirmt von der Welt, entdeckte er, dass der Sprache eine Magie innewohnte, die zu einer besonderen Form der Herrschaft befähigte. Das Gedicht »Weihe«, mit dem George 1890 seinen ersten Gedichtband Hymnen eröffnete, schildert, noch ganz in der Tradition Klopstocks, die Begegnung mit seiner Muse, die bei ihm, weniger barock, »herrin« heißt:
Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre
Im linden winde ihre fahnen schwingen
Und wehren junger wellen schmeichelchore
Zum ufermoose kosend vorzudringen. 48
Nachdem alle störenden Einflüsse ausgeschaltet sind und der Dichter in höchster Konzentration ihrer Ankunft entgegenfiebert, »schwebt die herrin nieder«. Mit ihr schließt er so etwas wie einen »Vertrag« zur Erneuerung der deutschen Dichtersprache, »Weihe« wird zu einer Art »Gründungsmythos« des Georgeschen Werkes. 49 Nimmt man die Anfangszeilen wörtlich, so hat George den Anfang seines
Dichtens nicht einmal übermäßig stilisiert. Fast glaubt man die Stelle, an der er seinem Genius zum ersten Mal begegnete, lokalisieren zu können. Dass George das Gedicht höchstwahrscheinlich in Berlin schrieb, Anfang 1890 bei einem Gang durch den Park von Schloss Bellevue, lässt einen Grundzug seines poetischen Verfahrens erkennen, den Georg Simmel um die Jahrhundertwende als Erster beschrieb. Skeptisch gegenüber spontanen Gefühlsäußerungen und getrieben vom Willen zur Form setzte George alles daran, den Stoff in der Erinnerung so stark zu verdichten und die Emotionen so weit zu reduzieren, dass ihm das Bild, das er fand, das Ereignis als solches ersetzte.
Lag er nicht träumend an den Nahe-Ufern, zog sich der junge George gern in die Dachkammer des elterlichen Hauses zurück. Auch in dem kleinen Gartenhäuschen war er durch eine hohe Steinmauer vor Einblicken geschützt und konnte sich stundenlang in die Lektüre von Schiller und Heine, Jules Verne und Walter Scott vertiefen. Weil dabei die Lust an der Sprache das Interesse an der Geschichte überwog, so erzählte George später, habe er sich bald schon die ersten fremdsprachigen Autoren im Original anzueignen versucht. Durch »eine ältere ledige Person«, die ihn sehr gern gehabt und ihm geduldig alle Fragen beantwort habe, »die man ihm zuhause gar nicht hätte beantworten können«, sei er als Erstes in den Besitz einer italienischen Sprachlehre gekommen. 50 Die Herausforderung, das Italienische und andere im Selbststudium erlernte Sprachen praktisch anzuwenden, habe ihn damals vor »Schundlektüre« bewahrt. Unter den dreißig Bänden italienischer Klassiker, die früh in seiner Bibliothek standen, finden sich Boccacio und Tasso, Leopardi und Alfieri, Manzoni und Goldoni, aber auch La morte di Wallenstein und eine italienische Faust -Ausgabe, sogar ein Band Molière auf Italienisch. Offensichtlich studierte er Sprache tatsächlich um ihrer selbst willen und las sich so durch die Literaturen. 51
Wer in Bingen hätte sich je mit solcher Lektüre beschäftigt? Es verwundert kaum, dass George bei seinen
Weitere Kostenlose Bücher