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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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nicht, was hinter ihr steckt.« 36 Die Müllerstochter, die sich von der Heirat mit dem Neffen des Landtagsabgeordneten offenbar mehr versprochen hatte, warf ihrem Mann mangelnden Ehrgeiz vor. Während andere, die in ihrer Jugend noch betteln gegangen seien, vom Wirtschaftsaufschwung der Gründerzeit profitiert und aus dem Nichts etwas aufgebaut hätten, habe ihr Mann das Ererbte gerade einmal zusammengehalten. Auch wenn das väterliche Einkommen einen
bescheidenen Wohlstand sicherte, lebte man sparsam, eher karg. Wer Käse und Butter zusammen isst, habe man bei ihm zu Hause gesagt, »der muss schon zwei Häuser haben«. 37 Die Einfachheit der Lebensführung behielt George zeitlebens bei.
    Friedrich Gundolf, der im Haus am Nahekai jahrelang ein und aus ging und sogar wusste, an welcher Stelle in der Mauer der Schlüssel versteckt war, charakterisierte die Mutter als »eine tieffromme strenge, sachliche ernste, unermüdlich arbeitsame« Frau. 38 Gundolf war einer der wenigen Menschen, die Zugang zu ihr fanden. Der Gundel sei ja von seiner Mutter geradezu »verhätschelt« worden, erinnerte sich George Jahrzehnte später. 39 Vergleichbare Aufmerksamkeit habe er jedenfalls nie bei ihr gefunden, Zärtlichkeiten seiner Mutter ihm gegenüber seien undenkbar gewesen: »Sie kannte keine Sentimentalitäten, auch keine überflüssigen Liebkosungen ihrer Kinder. Sie machte alles mit sich ab.« Unzufrieden mit sich und der Welt, misstrauisch und verbittert, lebte Eva George mit ihrer Tochter Anna »nonnenhaft« 40 zurückgezogen. Die beiden Frauen gingen selten aus und empfingen nie Besuch, nicht einmal die Verwandten aus Büdesheim. Während der Vater, wie man annehmen darf, jede Gelegenheit nutzte, Luft zu schöpfen, verließen Mutter und Tochter das Haus nur zum gemeinsamen täglichen Kirchgang.
    Der bigotte Geist in der Hinteren Grube 1 ließ eine Besucherin aus dem aufgeklärten Berlin unwillkürlich an die Welt der Herrnhuter denken: »Es ist das Klein- und Spießbürgerlichste, was man sich denken kann.« 41 Wenn George später immer wieder über die geistige Enge von Bingen klagte, meinte er in erster Linie die drückende Atmosphäre zu Hause. Argwohn wurde ihm zur Grundkomponente sozialen Verhaltens. Ängstlich und unsicher näherte er sich seinen Altersgenossen, ihre Spiele erschienen ihm roh und bedrohlich. Um seine Menschenscheu zu kompensieren, redete er sich ein, dass vieles von dem, was ihnen Vergnügen bereitete, unter seiner Würde sei. Später wird er stolz erzählen, dass er sich schon als Kind nicht habe in die Karten gucken lassen. 42
    Eine der frühesten Erinnerungen Georges drehte sich bezeichnenderweise
um Verrat. Als er acht Jahre alt gewesen sei, habe er auf dem Weg zur Schule etwas angestellt, so dass er davonlaufen musste, stürzte und völlig verdreckt in der Schule ankam. Ein Mädchen, das ihm half, seine Kleidung zu säubern, habe ihn gefragt, was denn passiert sei, sie würde es bestimmt nicht ausplaudern. Nach der Unterrichtsstunde hatte sie »nichts Eiligeres zu tun, als zu der Lehrerin zu gehen und ihr alles haarklein zu erzählen«. Bestimmt habe sie damit gerechnet, dass er sie deshalb verachte, aber »den Gefallen hätte ich ihr nicht getan. Ich tat so wie früher, aber ich wusste nun!« 43 George schien nicht nur den Verrat als solchen zu missbilligen, sondern mit der merkwürdigen Formulierung »aber ich wusste nun!« auch andeuten zu wollen, dass er über die Falschheit des weiblichen Geschlechts früh im Bilde war.
    George muss als Kind sehr einsam gewesen sein. Nachbarskindern und Schulkameraden ging er aus dem Weg, und das Verhältnis zu den Geschwistern war wohl ein rein pragmatisches. Weil er sich unverstanden fühlte, flüchtete er in künstliche Welten, in denen er die Regeln selbst bestimmte und grundsätzlich immer der Erste war. Als Julius Simon, mit dem er unter dem elterlichen Dach König und Erster Minister spielte, nach vier Wochen die Rollen tauschen und selber auch einmal König sein wollte, brach George das Szenario entrüstet ab. Die Rolle des Königs stand niemandem zu als ihm:
    Genossen die dein blick für dich entflammte
Bedachtest du mit sold und länderei,
Sie glaubten deinen plänen, deinem amte
Und dass es süss für dich zu sterben sei. 44
    Georges kühne Phantasien vermochten die Altersgenossen nur mäßig zu begeistern. Da folgewillige Untertanen ausblieben, saß der kleine König meist allein in seinem »Schilfpalast« 45 am Ufer der Nahe und sann über das

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