Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Altersgenossen keinen Anschluss fand und schon früh als Sonderling galt. Den Spöttern begegnete
er mit Hochmut und Strenge. Tobten die Binger Jungen am Nahekai, trat er vors Haus und ermahnte sie, etwas weniger Lärm zu machen, er könne sich nicht konzentrieren. Stiegen sie über die Gartenmauer und stahlen aus dem Georgeschen Vorgarten die Birnen, hielt er ihnen einen Vortrag darüber, wie ungesund es sei, unreifes Obst zu verzehren. Vielen fuhr der Schreck in die Glieder, sobald er auftauchte. Ihn zu provozieren trauten sich die wenigsten, eilte ihm doch der Ruf voraus, dass er jähzornig war und kräftig austeilen konnte. Meist verschanzte er sich im Gartenhäuschen, wo er lange Zeit »ganz versunken in die Wolken starrte«. Deshalb nannten ihn die Jungen in Bingen den »Sternegucker«. 52
Es war absehbar, dass die Verhältnisse in Bingen seinen narzisstischen Selbstansprüchen auf Dauer nicht genügen konnten und George die erste Gelegenheit ergreifen würde, auszubrechen. Gleichwohl hat er seine Herkunft nie verleugnet, im Gegenteil. Sein Narzissmus war so stark, dass er alles, was mit seiner rheinischen Heimat zu tun hatte, verklärte und Fremden gern die historischen und kulturellen Zusammenhänge erläuterte. Zur Heimat zählten für ihn nicht nur die Orte der näheren Umgebung, sondern das gesamte Gebiet von Trier bis Bamberg, von Speyer bis Köln. Sein Leben lang hatte er am liebsten mit Menschen zu tun, die aus dem mainfränkischen Raum stammten. Er war überzeugt, dass an Rhein, Main und Mosel die Wurzeln der deutschen Kultur lagen, und sprach zeitlebens Dialekt. Im feinen Berliner Westen, wo er Ende der neunziger Jahre sein erstes Publikum fand, verstand man ihn nur mit Mühe und reagierte leicht pikiert. Er sagte »Wutz« und »Hinkel«, »gemöcht« und »schadt nix«, steigerte glatt zu glätter, verwechselte als und wie und hatte eine Vorliebe für das Füllwort all – »wie richtig das all ist«.
George hat später immer wieder hervorgehoben, wie dankbar er seinem Vater sein müsse, dass er es ihm gleich nach dem Abitur finanziell ermöglichte, seine eigenen Wege zu gehen. Das war nicht nur großzügig, es lag auch im persönlichen Interesse des Vaters, der längst eingesehen hatte, dass sein Ältester nicht für das Weingeschäft taugte. Nachdem er ihn hatte ziehen lassen, konnte er sich in Bingen wieder
etwas wohler fühlen, denn die scheelen Blicke seiner Mitbürger auf den sonderlichen Sohn setzten ihm offenbar nicht weniger zu als dessen eigenes Aufbegehren. »Mein Vater war froh, dass er mich los war.« 53 Im Stillen aber hegte der Vater wohl die Hoffnung, dass es der Sohn draußen in der Welt vielleicht doch noch zu etwas bringen würde. Die Chancen standen dort jedenfalls besser als in Bingen, der Provinz, in der man jeden, der anders war, immer schon als Zumutung empfand.
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Heldenverehrung
Als Stefan George im Herbst 1882 von der III. Klasse der Binger Realschule auf das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt wechselte, musste er wegen der unterschiedlichen Lehrpläne die gleiche Klasse zunächst noch einmal durchlaufen. Nachdem er den Stoff nachgeholt hatte, wurde er an Ostern 1883 vorversetzt, das Zeugnis für das Sommerhalbjahr 1883 bescheinigte ihm »besonders tüchtige Leistungen«. Am ersten Tag des neuen Schuljahrs begegnete ihm in Gestalt des Französischlehrers Dr. Gustav Lenz ein alter Bekannter:
Unser Lehrer im Französischen, ein munterer, immer zu Schnurren aufgelegter Herr, der erst kürzlich vom Progymnasium in Bingen zu uns versetzt worden war, betritt die Szene, und kaum auf das Katheder getreten, ruft er auch schon mit erstaunt erhobenen Armen: Etienne George! Voilà! Also jetzt bist du auch da! – Bist mir nachgefolgt von Bingen! Mais mille fois pardon! Jetzt stehn wir ja per Sie! En avant! Ich weiss: Sie werden auch hier immer mein Bester sein im Französischen! 1
Ob es Dr. Lenz war, der den Vater überredet hatte, seinen Sohn aufs Gymnasium zu schicken, oder ob sich die Mutter vom Pfarrer hatte überzeugen lassen, dass der Stefan prädestiniert sei für den Dienst in der katholischen Kirche, bleibt Spekulation. Wolters berichtet, dass neben Darmstadt auch Mainz und Frankfurt als Schulort zur Wahl standen. Frankfurt hätten die Eltern verworfen, weil es »schon außerhalb der hessischen Grenzen« lag und als Stadt auch zu groß erschien, »das leichtfertige Mainz« dagegen sei ihnen zu nah gewesen. 2 Neben der persönlichen Beziehung zu Dr. Lenz spielte also
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