Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
26 Er besaß eine Briefmarkensammlung als Notgroschen für schlechte Zeiten, studierte gern Landkarten und war handwerklich geschickt. 27 Er schnitzte mit dem Taschenmesser einen fehlenden Eierlöffel und bastelte aus Zeitungspapier und Strippe einen Ball für die Kinder. 28 Er liebte es, auf einer Chaiselongue liegend zu reden, und hakte sich beim Gehen gern unter. 29 Er reiste mit Spirituskocher, um sich immer seinen Tee aufgießen zu können, und begeisterte sich 1920 für mobile Taschentelefone. 30 Am wichtigsten war ihm der Tabak; weil er ausgefallene griechische und französische Sorten bevorzugte, bereitete ihm der Nachschub oft Sorgen. Er hielt die Zigarette gern zwischen dem dritten und vierten Finger und ließ bisweilen ein Weihrauchkorn auf der Glut zergehen. 31 Er legte Wert auf einfaches gutes Essen; obwohl er sich während des Studiums und später im Krieg, sei es aus diätetischen, sei es aus Kostengründen, eine Zeitlang vergetarisch ernährte, ging ihm nichts über einen guten Braten. 32 In früheren Jahren hatte er im Laufe des Vormittags oft schon eine ganze Flasche Wein geleert. 33
Besonders wohl fühlte sich George im Gundolfschen Elternhaus in Darmstadt, dort war er »damals mehr zu Haus als in Bingen«. 34 Als das Binger Haus nach dem Tod der Mutter 1913 vermietet wurde, brachte er seine persönlichen Dinge nach Darmstadt und stellte dort auch seine Bibliothek auf. Gundolfs jüngeren Bruder, den scheuen Ernst, der das Haus bis zu seiner Emigration 1939 bewohnte, schätzte George wegen seiner Belesenheit und seines unabhängigen Urteils; der Jurist, der wegen eines chronischen Lungenleidens nicht arbeitete, wurde von ihm oft um Rat gefragt. Im Umgang mit anderen Menschen tat sich der Sonderling schwer; er habe neulich »silberne Hochzeit mit meiner Schildkröte gefeiert«. 35 Zu seiner meditativen Lebensführung gehörte es, morgens eine kleine Federzeichnung oder ein Pastell anzufertigen. Im Laufe seines Lebens (er starb am 15. Mai 1945 in London) entstanden Tausende von Blättern, deren einziges Thema menschenleere, vorzeitliche Landschaften sind: weite Ebenen mit drei Pappeln, Felsen, Krater, kahle Dünen – alles mit einem nervösen kalten Strich gezeichnet und von großer Tristesse. Sein Ideal
war die Überwindung alles Stofflichen; »am liebsten würde ich das Papier ganz weiß lassen«, äußerte er einmal, und manchmal sah es so aus, als ob er »nichts anderes malen wollte als den Wind«. 36 1905 erschien im Verlag der Blätter für die Kunst eine Mappe mit zwölf Drucken nach Federzeichnungen von Ernst Gundolf.
Im Frühjahr 1910 ging Friedrich Gundolf nach Heidelberg, um sich zu habilitieren, erhielt ein Jahr später an der Ruprecht-Karls-Universität eine Professur und begann im Sommersemester 1911 seine zwanzigjährige Vorlesungstätigkeit mit einer Vorlesung über Goethe und seine Zeit. Mit Gundolfs Umzug verlagerte sich auch der Lebensmittelpunkt Georges nach Heidelberg. Wenn es richtig ist, Berlin, München und Heidelberg als die drei aufeinander folgenden Zentren des deutschen Geisteslebens zwischen 1890 und 1914 zu bezeichnen – und manches spricht dafür -, dann hätte George seinen Lebensschwerpunkt jetzt zum zweiten Mal in dem Augenblick verlagert, in dem der Trend in eine neue Stadt wies. So wie es ihn 1901 von Berlin nach München zog, so jetzt von der Isar an den Neckar. Das Zentrum seiner Aktivitäten lag mehr denn je da, wo Gundolf war. Als Redakteur der Blätter für die Kunst , als Herausgeber des Jahrbuchs für die geistige Bewegung , als eine Art Pressesprecher des Gesamtunternehmens und als derjenige, der einen Großteil der Korrespondenz führte (George empfand das Briefeschreiben von Jahr zu Jahr als lästiger), wurde der Dreißigjährige für George unentbehrlich. Mit mehreren programmatischen Aufsätzen im Jahrbuch und drei gewichtigen Büchern über Shakespeare (1911), Goethe (1916) und George selbst (1920) prägte er wie kein anderer das offiziöse George-Bild. Und je mehr sich der Dichter der Öffentlichkeit entzog, desto mehr galt der außerordentliche Professor für deutsche Literatur an der Universität Heidelberg als sein Stellvertreter auf Erden.
Was die beiden über die Unverbrüchlichkeit ihrer Freundschaft hinaus in diesen Jahren am meisten verband, war die gemeinsame Neuübersetzung Shakespeares. Im Frühjahr 1907 hatte Gundolf einen Auftrag des Verlegers Bondi zur Vorbereitung einer neuen Shakespeare-Ausgabe übernommen. Sämtliche Stücke in
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