Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
lassen: dass die jüngeren Freunde Georges von Gundolf bis Kommerell zum größten Teil nicht homosexuell waren und »dass er sich selbst so nicht definierte«. 18 Da authentische Zeugnisse von Jahr zu Jahr spärlicher werden und aus der zweiten Lebenshälfte nur wenige Schriftstücke vorliegen, die Einblick in Georges Gefühlswelt geben, ist der Biograph im Wesentlichen
auf das angewiesen, was andere hinterlassen haben. Dieses Material – Gesprächsnotizen, Tagebücher, Erinnerungen – stammt zum größten Teil von Personen, die Teil des Systems waren und mehr oder weniger aktiv an der Legendenbildung mitwirkten oder, im Falle ihrer Trennung, unter erheblichem Rechtfertigungdruck standen. Auf welche Quellen kann man sich verlassen und wie soll man vorgehen?
Für das Jahrzehnt vom Tod Maximilian Kronbergers bis zum Ausbruch des Kriegs ist rund ein Dutzend Beziehungen Georges zu jungen Männern belegt (einige weitere Kontakte lassen sich nicht mehr verfolgen). Die meisten von ihnen waren, als sie George kennenlernten, um die zwanzig Jahre alt; der jüngste, Percy Gothein, war 14, der mit Abstand älteste, Ernst Glöckner, 28. Bei allen Unterschieden im Einzelnen blieben die Abläufe sowie bestimmte Rituale stets die gleichen. Es bietet sich daher an, durch Auswertung der verfügbaren biographischen Zeugnisse zunächst das Grundmuster von Freundschaft im Georgeschen Sinn zu erstellen. Die herausragende Bedeutung, die der Stern des Bundes 1914 für den Staat erlangen wird, ist nur zu ermessen, wenn man sich die biographischen Zusammenhänge vergegenwärtigt, aus denen er hervorgegangen ist. Das Ziel ist eine »dichte Beschreibung«. 19
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Der äußere Rahmen blieb zunächst weitgehend unverändert. Zu Georges wichtigsten Bezugspersonen zählten nach wie vor Mutter und Schwester. Der Vater, der im Frühjahr 1906 einen Schlaganfall erlitt, starb Anfang Mai 1907. In Bingen lebte George während des Frühjahrs, hierher kehrte er in der Regel Mitte Dezember zurück. Zu Jahresbeginn fuhr er für ein paar Wochen nach München, wo ihm ab 1909 die Wolfskehlsche Mansardenwohnung zur Verfügung stand. Gegen Ende des Jahres besuchte er seine alten Freunde in Berlin, Simmel, Lepsius, Lechter, und seinen Verleger. Die Sommerferien verbrachte
er seit 1903 alljährlich mit Gundolf in abgelegenen Bergdörfern der Schweiz, wo sie oberhalb des Vierwaldstätter Sees, rund um den Hasliberg oder im Berner Oberland ausgiebige Wanderungen unternahmen. George schätzte die Schweizer Gastlichkeit; es gefiel ihm, dass die Wirte nicht viel Umstände machten – man setzte sich so zu Tisch, wie man von der Wanderung kam – und dass Unterkunft und Essen preiswert waren. In den ersten Jahren war Anna George mit dabei, später auch manchmal Gundolfs Bruder Ernst (der mehr als dreißig Jahre die Sommermonate im Sertigtal bei Davos verbrachte), und gelegentlich traf man sich mit anderen Freunden, die oft nur ein paar Dörfer weiter logierten.
Was die Tageseinteilung angeht, berichtet Morwitz, dass George »etwa bis zum fünfzigsten Lebensjahr in Gesellschaft seiner Freunde zu betrachtenden Gesprächen am Abend lange aufzubleiben pflegte. Gewöhnlich arbeitete er in der besonderen Stille der Stunden von fünf bis acht Uhr morgens, nahm ein sehr leichtes Frühstück, schlief noch einmal, unternahm um zwölf Uhr einen Gang, aß um ein Uhr Mittag, schlief bis vier Uhr und empfing dann Freunde.« 20 Boehringer erinnerte den Rhythmus ähnlich. George sei »nicht besonders früh« aufgestanden und nach Tisch wieder »ein bis zwei Stunden« ins Bett gegangen. »Zum Tee sah er dann gern einzelne Besucher, mit denen er oft im Gespräch bis kurz vor dem Abendessen blieb. Eigentliche Zusammenkünfte fanden nach dem Nachtessen statt. In späteren Jahren ging er früh schlafen: ›Nach zehn Uhr wird doch nur mehr gebabbelt. ‹« 21
Manches Detail ließe sich hinzuzufügen: dass er zum Beispiel nicht wünschte, bei der Arbeit »ertappt« zu werden. 22 Besonders zornig wurde er, wenn Kinder ihn heimlich beobachteten, aber die Kinder seiner Freunde durften ihn »Onkel Meister« nennen. 23 Er trug einen Diamantring und ein goldnes Armkettchen, hasste Brillen, ließ sich beim Friseur rasieren und puderte sein Haar. 24 Seine Lieblingsfarben waren mattes Blau und Gelb. 25 Er hatte eine Aversion gegen bürgerliche Möbel und zog die funktionellen Gegenstände den repräsentativen vor: ein Stück Schuhsohlenleder als Schreibunterlage, ein Brotmesser
als Brieföffner.
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