Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
jeder Einzelne aufgefordert, nach geeigneten Kandidaten Ausschau zu halten. Dieser Auftrag trug wesentlich zur Vorstellung von Kontinuität bei und stärkte generationenübergreifend das Bewusstsein, einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören, deren wichtigstes Ziel es war, dem Wunder der Erweckung durch George Dauer zu verleihen.
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Mit dem Stern des Bundes gab George dieser Gemeinschaft ihre Verfassung. Der Band, der im November 1913 in zehn Vorausexemplaren noch ohne Titel erschien – der Titel sollte ursprüngliche lauten: »Lieder an die heilige Schar« -, formulierte das Georgesche Erziehungsprogramm. Es war das Programm einer Elite, die sich im Kern über zwei Begriffe definierte: über die unbedingte Verehrung für einen Meister, der ihr den großen Menschen repräsentierte, und über die Freundschaft zwischen einem Älteren und einem Jüngeren, durch die der Fortbestand der Gemeinschaft sichergestellt war.
Dichten war für George in den Jahren nach Veröffentlichung des Siebenten Rings zunehmend zu einer pädagogischen Aufgabe geworden. Seine Gedichte richtete er jetzt mehr noch als früher an einzelne Freunde, Dichtung ersetzte ihm immer häufiger Brief und Gespräch. In Versen konnte er denen, um die er sich bemühte, Verhaltensmaßregeln zukommen lassen, in Versen erteilte er ihnen Auskunft über den Stand ihrer Entwicklung. Für viele von ihnen wurde die Lektüre des Stern zum Déjà-vu-Erlebnis. Manch einer glaubte, »fast die begebenheit der stunde und des abends« wiederzuerkenen, auf die das entsprechende Gedicht anspielte. 86
George versuchte, die jeweilige Situation so konkret wie möglich zu fassen und dabei zugleich die Gesetzmäßigkeiten der Freundschaft sichtbar zu machen. Wer glaubte, sich in einem bestimmten Gedicht wiederzuerkennen, und George danach fragte, wurde eines Besseren belehrt: »Kinder, glaubt nicht, dass ihr so wichtig seid, und sucht nicht immer wieder in den Gedichten den oder jenen oder euch selbst.« 87 Im Stern wurden »alle Einzelerlebnisse in eine gemeinsame Sphäre getaucht, alle Personen und Namen als ausschließlicher Besitz« der Gemeinschaft betrachtet. 88 Es galt, durch Vertiefung in das Gedicht nach der zugrunde liegenden höheren Wahrheit zu suchen. Lesen, Abschreiben, Auswendiglernen, Aufsagen und im gleichen Tone Weiterdichten: Das ganze von George empfohlene Exerzitium diente einzig und allein dem Zweck, »die Werte und Normen des Kreises zu verinnerlichen«. 89
In der 1928 formulierten Vorrede zum achten Band der Gesamtausgabe behauptete George, der Stern sei zunächst gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. »Gedacht für die freunde des engern bezirks«, habe er schließlich doch »die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz«. Mit diesem Paradox trug George einem Phänomen Rechnung, das Herbert Marcuse in den sechziger Jahren unter dem Begriff »repressive Toleranz« beschrieb. Es gehöre zu den Abwehrmechanismen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, gegenüber allem, was ihr substantiell fremd ist, Toleranz zu demonstrieren und sich auf diese Weise anzueignen, was ihr potentiell gefährlich werden könnte. Die Autonomie eines Kunstwerks sei daher umso weniger gefährdet, je weniger Anstoß es errege.
Hatte George Exklusivität behauptet, solange die Anerkennung ausblieb, so wählte er jetzt den umgekehrten Weg und suchte die Öffentlichkeit, um Gerüchten vorzubeugen. Wegen der eindeutig homoerotischen Grundierung des neuen Buches blieb dies allerdings ein enormes Wagnis. George scheint darauf vertraut zu haben, dass ohne Kenntnis des Codes das meiste nicht wirklich zu entschlüsseln war. Was wirklich dort stand, konnte nur in der ritualisierten Form des gemeinsamen Lesens erfahren werden. Beim Lesen in kleiner Runde, vor allem beim Lesen zu zweit, bezog jeder die Verse, die für ihn vorgesehen waren, automatisch auf sich. Der Ältere ging in Führung, der Jüngere wurde zu innigem Nachvollzug des Gelesenen aufgefordert. Das dialogische Sprechen, das George im Stern perfektionierte, erzeugte bei dem Probanden »eine ähnliche Bereitschaft zur Auffüllung, wie sie eine religiöse Gemeinde nicht aus dem Wort gewinnt, sondern dem Wort von sich aus zubringt«. 90 Nicht was dort stand, zählte, sondern wie es vom Novizen ergänzt und anschließend umgesetzt wurde.
Der Stern des Bundes besteht aus drei Büchern zu je dreißig Gedichten, einem Eingang mit neun Gedichten und einem »Schlusschor«: hundert einstrophige
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