Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
zufolge Wissenschaft und Bildung auf das Engste verknüpft waren.
Einen direkten Zusammenhang zwischen Bildungskrise und Krise
der Wissenschaft – eine Entwicklung, die nach 1918 von vielen als allgemeine Kulturkrise wahrgenommen wurde – sahen vor dem Krieg nur wenige. Zu ihnen gehörte der langjährige Freund Simmel, der 1913 Klage darüber führte, dass die Universität die Jugendlichen längst im Stich gelassen habe. »Außer all den vortrefflichen Belehrungen spezialistischer und exakter Art« wünschten sich »oft gerade die innerlich lebendigsten und idealistischsten jungen Männer … noch etwas Allgemeineres oder, wenn man will, Persönlicheres«. Wo ihnen dies nicht geboten werde, suchten sie Zuflucht in der Mystik, bei der Sozialdemokratie oder in einem falsch verstandenen Nietzsche. »Täuschen wir uns nicht darüber: die deutschen Universitäten haben die innerliche Führung der Jugend in weitem Umfang an Mächte dieser Art abgegeben.« 52
»Mächte dieser Art«: Das waren zweifellos auch George und die Seinen, die ihre Angriffe jetzt immer häufiger direkt gegen die deutsche Universität als solche richteten. Sie nutzten das heraufdämmernde Krisenbewusstsein, indem sie den Gegensatz zwischen toter Wissenschaft und lebendiger Überlieferung weiter zuspitzten und George selbst als einzigen Retter aus dieser Not priesen. »Kritik will nur noch verstanden werden als förderung der krise: nicht mehr als scheidung der erstarrten dinge, sondern als entscheidung für das lebendige.« 53 Was Wolters am Ende des ersten Jahrbuch -Bandes forderte, war nichts anderes als die Beschleunigung der allgemeinen Krise zur Herbeiführung einer unumkehrbaren Situation. Im zweiten Band legte Gundolf nach: »Die allgemeine toleranz ist eine krankheit des geistes … Der allgemeine duldende frieden ist ein müdes greisenideal. Wo jugend … ist, da ist krieg nötig.« 54 Man dürfe nicht warten, »bis das morsche gebäude von selbst zerfällt … und die satanisch-verkehrte, die Amerika-welt, die ameisenwelt sich endgültig eingerichtet hat«, warnten sie schließlich in einer gemeinsamen Einleitung zum dritten Band. 55 Erforderlich sei vielmehr die Schärfung des Bewusstseins für die chiliastischen Dimensionen des Kampfes, in dem die Menschheit stehe – dem »kampf von Ormuzd gegen Ahriman, von Gott gegen Satan, von Welt gegen Welt«.
Den Untergang des Abendlandes konnte selbstredend nur George noch abwenden. »Charismatische Führer beziehen sich auf letzte Werte, auf das Überleben, die Rettung vor dem Untergang.« 56 Erst die vom Führer in Aussicht gestellte »Verwirklichung letzter Werte« rechtfertigt den Glauben an seine charismatische Mission. So kommt es zu jenem »Prozeß der Zirkularstimulation«, bei dem »die Krise, wie sie durch den Charismatiker definiert wird, nur durch den Charismatiker selbst gelöst werden kann«.
4
Der neue Band der Blätter für die Kunst , der Mitte Februar 1909 erschien, ließ erkennen, dass das Unternehmen auf der Stelle trat. Es war die erste Veröffentlichung der Zeitschrift seit fünf Jahren, und dafür wirkten die 176 Seiten dürftig. Wären nicht Ende des Jahres Hölderlins Pindar-Übertragungen aufgetaucht, hätte George die Zeitschrift wohl endgültig eingestellt. Für Verwirrung sorgte auch, dass der Band nicht, wie es der Zählung entsprochen hätte, als Achte Folge der Blätter für die Kunst mit dem üblichen Exklusivitätsvermerk erschien, sondern als sogenannte Auslese bei Bondi. Der erste Band mit ausgewählten Beiträgen aus den frühen Jahrgängen der Zeitschrift war im Herbst 1898 zeitgleich mit den öffentlichen Ausgaben der Gedichtbände bei Bondi erschienen, ein zweiter Auswahlband für die Jahre 1898 bis 1904 folgte Ende 1903. Von allen Heften der Zeitschrift war das jüngste das mit Abstand merkwürdigste, ein Zwitterwesen, vor allem dazu bestimmt, eine Lücke zu füllen, »da jetzt vorläufig keine Blätter erscheinen«. 57
Am 1. September, früher als sonst, kam George nach Berlin, wo er zunächst sechs Wochen bei Vallentins im Bayerischen Viertel wohnte (im Jahr darauf zogen sie nach Charlottenburg in die Sybelstraße). Es gab viel zu tun. Zum einen wollte er den Druck der Übertragungen der Shakespeare-Sonette und der Dante-Auswahl überwachen, die beide Anfang November erschienen. Zum anderen trieben ihn Pläne
für eine neue Zeitschrift nach Berlin, deren Gründung Mitte März bei einem Treffen mit Gundolf in Darmstadt beschlossen worden sein
Weitere Kostenlose Bücher