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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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die Holbeinstraße eingeladen. Thormaehlen brachte aus einer öffentlichen Bibliothek zwei Exemplare der Fünften Folge mit, in der Die Aufnahme in den Orden erschienen war. George wollte gar nicht glauben, dass man die Blätter in einer
Lesehalle ausleihen konnte. Im Grunde wundere ihn aber gar nichts mehr, meinte er dann; kürzlich habe er gehört, dass sogar der Kaiser »in lateinischer Schrift und mit kleinen Anfangsbuchstaben« schreibe. 47 Nach diesen Präliminarien wurde gelesen.
    Thormaehlen las den »Jüngling«, der um Aufnahme bat, Vallentin übernahm alle anderen Rollen: den »Grossmeister«, die drei Ordensbrüder, die den Aspiranten prüfen, und den »Chor der Brüder«, der das Geschehen kommentiert. Dann las George den Großmeister, anschließend den gesamten Text. Nachdem die anderen dazugestoßen waren – Wilhelm Andreae, Friedrich Andreae mit Freundin, Kurt Hildebrandt, Paul Thiersch mit Frau, Diana Vallentin -, lasen alle gemeinsam noch einmal: doppelchorig. Das Ganze wurde fünf Tage später wiederholt und im Jahr darauf erneut eingeübt. Die jahrelangen Bemühungen der Blätter um eine Wiederbelebung der Sprechbühne in Deutschland mündeten in den feierlichen Aufzügen der Lichterfelder Gemeinde, in der das Deklamieren in kleineren und größeren Gruppen zum festen Ritual gehörte. George schätzte besonders den schönen Vortrag der Berufsschauspielerin Diana Vallentin. Ein herzliches Verhältnis entwickelte er auch zu einer Kusine Hildebrandts, Erika Schwartzkopff, der neuen Lebensgefährtin und späteren Frau von Wolters.
    Auf der Suche nach geeigneten Mitteln, das öffentliche Interesse neu zu beleben, kam an einem der Abende im Februar 1909 der Zufall zu Hilfe. Kurt Hildebrandt, der seit zweieinhalb Jahren als Arzt an der Berliner Irrenanstalt in Wittenau (heute Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik) tätig war und nebenher Altphilologie trieb, hatte Vorlesungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff besucht und sich Notizen gemacht, aus denen er zur Belustigung der Runde einiges vortrug. George dürfte sich an die Kränkung erinnert haben, die ihm Wilamowitz einst durch Vortrag von Parodien im Hause Dernburg zugefügt hatte. Einer der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit, der Schwiegersohn Mommsens, die Leuchte der Berliner Universität – war das nicht ein lohnendes Objekt für einen gezielten Stoß? Hildebrandt wurde ermutigt, seine Aufzeichnungen über Wilamowitz auszuarbeiten.
Der Aufsatz »Hellas und Wilamowitz« erschien ein Jahr später im ersten Band des Jahrbuchs für die geistige Bewegung und handelte alle Einwände Georges und seiner Leute gegen die Philologie der Reihe nach ab: Anbiederung an den Zeitgeist, Verstofflichung und Verniedlichung der Antike, Psychologisierung und Trivialisierung. Der einzig wahre Führer zur Antike, so endete der umfangreiche Beitrag, sei »der goldgeflügelte Eros«. 48
    Im Umfeld Georges dürfte bekannt gewesen sein, dass Wilamowitz in jungen Jahren Nietzsches Erstling Die Geburt der Tragödie nach allen Regeln der Kunst verrissen hatte. Nietzsche vergewaltige die philologische Methode, er bringe nicht einmal die Voraussetzungen mit, Quellen richtig zu lesen. Er sei ein »metaphysiker und apostel«, aber kein seriöser Wissenschaftler und daher vollkommen ungeeignet, »Deutschlands philologische jugend, die in der askese selbstverläugnender arbeit lernen soll«, pädagogisch zu fördern. 49 Um genau diese Frage ging es auch jetzt wieder, ein Menschenalter später: Wer sollte die Jugend nach welchen Kriterien führen? Der Philologe nach den Normen wertfreier Wissenschaft oder der Visionär des pädagogischen Eros?
    »Nur wer vom Leben der Akademie etwas weiss, wird eines Tages etwas Endgültiges über die Lehren der Dialoge sagen können.« 50 Aufgrund seines Platon-Verständnisses konnte George in Wilamowitz nur den Antipoden sehen, der durch einen falschen Wissenschaftsbegriff auf der einen und lachhafte Popularisierungsversuche auf der anderen Seite das wahre Erbe Platons, die lebendige Wissensvermittlung durch den Eros, verspielt hatte. Das Ideal des berühmten Gelehrten sei wohl »ein Plato für Dienstmädchen«. 51 Mit seiner Auffassung von Erziehung stand George quer zum wilhelminischen Wissenschafts- und Bildungssystem, das in Wilamowitz einen seiner mächtigsten Repräsentanten hatte. Ihn herauszufordern hieß sowohl das bürgerliche Bildungsideal des 19. Jahrhunderts als auch den überkommenen Wissenschaftsbegriff in Frage zu stellen, dem

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