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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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an ihm und den Idealen, die er ihnen ins Feld mitgegeben hatte. Und was sollte man den anderen sagen? George tat sich schwer, wie immer, wenn es um den Tod ging. Am Ende entschloss er sich zu einer heroischen Deutung, die mit dem tatsächlichen Ablauf nicht mehr viel zu tun hatte. Er erklärte die schlimmste menschliche Katastrophe, die er in den vier Jahren des Krieges erleben musste, zu einem Akt innerer Notwendigkeit und konstruierte einen vorsätzlich geplanten gemeinsamen Selbstmord. Der Victor habe den Adalbert so geliebt, dass er dessen Schicksal über das eigene stellte. George rückte die beiden in eine Reihe mit Kastor und Pollux, den Dioskuren, die zum Zeichen ihrer unvergänglichen Freundschaft von den Griechen als Sternbild verewigt worden waren. Auch in der Stunde der äußersten Not – das war die zentrale Botschaft des für den Freundeskreis so wichtigen Gedichts – gehorchte der Staat Georges nur seinen eigenen Gesetzen.

4
    Pfingstsamstag, den 7. Juni 1919, trafen die Freunde einer nach dem andern in der Villa Lobstein ein, Gundolfs Domizil am Schlossberg 55 in Heidelberg. Im letzten Haus vor dem Schlossgarten hatte Gundolf im Januar zwei Zimmer in der Beletage gemietet. Das eine bewohnte er, in das andere war Anfang April George eingezogen, der Rest des Stockwerks stand leer. Eine große marmorne Halle mit
Oberlicht und eine ausladende Terrasse mit breiter Treppe in den Garten komplettierten das feudale Ensemble. »Es kommt für dich in Betracht wie nichts andres«. 43 George habe oft am Fenster gestanden und Ausschau gehalten, erinnerte sich Edgar Salin, der an Pfingsten gern dabei gewesen wäre, »ob unter der vorbeiflutenden Jugend Einer zu sichten sei, dessen Haltung, dessen Gang, dessen Auge ihn des Kreises der Freunde würdig erscheinen« ließ. 44 Der Auftritt des Dichters sorgte für Gesprächsstoff auch unter Leuten, die ihm fern standen; zwanzig Jahre später schrieb Arnold Zweig: »Traf man dann auf dem Weg zur Schloßstiege im ersten Nachkriegssommer einen Mann, unter Mittelgröße, gehüllt in ein dunkles Lodencape und fast ärmliche Kleidung, der, ohne Hut, das Gesicht eines zaubernden Gnomen durch das milde Licht trug, gelblichgrau, mit Augen, Kinn und Stirnbögen, von denen eine magische Besessenheit ausstrahlte, so war das der wirkliche Stefan George.« 45
    Ernst Glöckner kam erst gegen Mitternacht in Heidelberg an. Für die Fahrt von Bad Brückenau am Fuß der Rhön über Würzburg nach Heidelberg hatte er mehr als 16 Stunden gebraucht. Auch in Heidelberg sei alles drunter und drüber gegangen, schrieb er eine Woche später in seinem Bericht an Bertram, aber dank frühsommerlicher Temperaturen habe eine heitere, fast südliche Stimmung geherrscht: »Trupps mit Mandolinen, Trupps mit Gepäck, Trupps ohne Nachtlager, Aufstieg zum Schlossberg, gestörte Liebespaare«. 46 Da nirgendwo ein Zimmer zu bekommen war, traute sich Glöckner nach langem Herumirren, bei Gundolf zu klingeln, der ihm ein Sofa anbot. In aller Frühe wachte er auf:
    Als ich spürte, dass die Zeit für den Meister gekommen war, schlich ich mich in sein Zimmer. Dies Erstaunen hättest Du sehen sollen, als der Unerwartete oder Nicht-mehr-erwartete vor ihm stand. So sah ich ihn noch nie; mit einem Freudenschrei stürzte er sich auf mich, nachdem der Eindruck des Gespenstischen vorüber war, und belobte mich, wie ich noch nie belobt war. Jedem wurde das Bild ausführlich später erzählt, einen solchen Eindruck hatte es auf ihn gemacht. Und dann begannen diese unwahrscheinlichen Tage, die voller Heiterkeit und Tiefe waren wie der heitere und tiefe Himmel über der leuchtenden, blühenden, unwahrscheinlichen Stadt.
    Die Liste der Geladenen bot kaum Überraschendes. Neben Ernst Glöckner, dem die Rolle des Novizen sechs Jahre zuvor zugefallen war, und den drei Neuen – Percy Gothein, Woldemar von Uxkull, Erich Boehringer – waren aus Darmstadt Gundolfs Bruder, der »kleine Ernst«, sowie aus Berlin Ernst Morwitz, Ludwig Thormaehlen und Berthold Vallentin angereist (letzterer offenbar in Begleitung seiner Frau, die jedoch, anders als an den Lesungen vor dem Krieg, jetzt nicht mehr teilnehmen durfte). Hinzu kam der Hausherr, wenn man Gundolf als solchen bezeichnen will. Albrecht von Blumenthal, der George 1911 kennengelernt und im Jahr darauf erstmals an einer kleinen Lesung teilgenommen hatte, den aber »keiner der Geladenen bis dahin kannte, trat vom Meister eingeführt am zweiten Tag zu uns ein und zog sich

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