Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
zurückgehen werde; es seien, räumte er zwei Monate später im Gespräch mit Gundolf ein, einige »unmutige und widerspenstige Worte« gefallen. 35
Der Besuch bei Gundolf in Berlin am Abend des 9. Juli 1918 ist das letzte gesicherte Datum im Leben von Adalbert Cohrs bis zum Tag seines Selbstmords. »Ich war bis in die Nacht mit ihm zusammen«, schrieb Gundolf am folgenden Tag an George, »er war schön und hoh wie je und ich war glücklich wieder einmal diese junge Heldenluft zu atmen. Er will nun ins Feld, freudig und ohne Hader, und bereut dir im Harz Sorge gemacht zu haben.« In Wahrheit hatte Cohrs längst etwas anderes beschlossen. Er war nicht, wie er in seinem letzten Brief an George vom 9. Juli schrieb, nach Berlin gefahren, um Abschied von Bernhard zu nehmen, der Anfang Juni aus Schierke entlassen worden war, sondern um sich mit ihm über eine gemeinsame Flucht abzustimmen. Über einen Regimentskameraden Uxkulls gelangten sie an die Namen von zwei potentiellen Fluchthelfern im deutschholländischen Grenzgebiet bei Venlo.
Das, was sich drei Wochen später an der Grenze ereignete, blieb mit Rücksicht auf George diskret im Ungefähren. Cohrs und Uxkull hätten versucht, »aus dem Zwang des unsinnigen Geschehens hinauszukommen«, orakelte Thormaehlen. »Ohne auch nur einem der ihnen Nahestehenden von ihren Plänen Kenntnis zu geben«, so Morwitz, seien sie Ende Juli an die holländische Grenze gefahren und hätten dort am 28. Juli »durch gleichzeitige Revolverschüsse« ihrem Leben ein Ende gesetzt. 36 Die beiden hätten darauf vertraut, meinte
George zu Erich Boehringer, »dass wir die Deutung ihres rätselvollen Tuns selber fänden«. 37 Die seine, die für alle verbindlich werden sollte, gab George in einem großen Gedicht, das er als Zwiegespräch zwischen Bernhard (den er hier mit seinem zweiten Vornamen Victor nannte) und Adalbert anlegte. Der fiktive Dialog findet in Schierke statt, unterhalb des Brockens – »dort liegt der Hexenberg in falbem schein«. Adalbert ahnt, dass er fallen wird, sobald er wieder an die Front kommt; er sieht Deutschlands »unsäglichen zerfall« voraus und erklärt, dass es besser für sie beide wäre, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Der Jüngere versucht vergeblich, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Als Adalbert erklärt, dass er notfalls auch allein gehen werde, versichert ihn Victor seiner ewigen Treue und bittet in den Schlusszeilen: »wenn nach deinem schicksal du beschlossen / Durchs dunkle tor zu gehn: so nimm mich mit!« 38
Der doppelte Verlust traf George schwer, und er war sich über die Hintergründe durchaus im Klaren. Ernst Glöckner hat sie sechs Wochen nach den Ereignissen in einem Brief an Ernst Bertram angedeutet: »Du weisst, dass der Meister mir nicht mehr geschrieben hatte. Die Krankheit schien ihn genügend zu entschuldigen – aber die war nicht der Grund seines Schweigens. Adalbert und Bernhard sind beide tot. Da sie es nicht mehr in Deutschland aushielten – sie sollten getrennt werden, jeder sollte wieder zu seinem Regiment zurück – unternahmen sie einen Fluchtversuch nach Holland, der missglückte.« 39 Bei ihrem Versuch, sich ins neutrale Ausland abzusetzen, waren Cohrs und Uxkull an den Falschen geraten. Der Metzger von Lobberich, einem Dorf im Kreis Kempen, den sie am Morgen des 28. Juli baten, ihnen beim Grenzübertritt zu helfen, hatte sie angezeigt. Sie wurden verhaftet und zur Vernehmung durch die nächste Militärdienststelle nach Kaldenkirchen gebracht. 40
Auf Desertion im Krieg stand die Todesstrafe. In der deutschen Armee wurden während des Ersten Weltkrieges allerdings nur 48 Todesurteile wegen Desertion gefällt und von diesen nur einige vollstreckt. Offiziere waren nicht darunter, da es allgemein als unvorstellbar galt, dass ein deutscher Offizier Fahnenflucht beging. 41 Zu
einem Verfahren gegen Cohrs und Uxkull kam es jedoch nicht. Bei ihrer Vernehmung in Kaldenkrichen »zog der eine von den Verhafteten eine Tesching aus der Tasche und tötete sich durch einen Schuss in die Schläfe. Der andere, der während der Vernehmung in einem Nebenzimmer von einem Posten bewacht wurde, zog, als er den Knall hörte, ebenfalls eine Schusswaffe aus der Tasche, um sich zu erschießen.« 42
Mit einem solchen Ende der ihm Nächsten wollte sich Stefan George verständlicherweise nicht abfinden. Desertion, Flucht vor dem Feind – das war, nach all den Gesprächen, die sie darüber geführt hatten, und so kurz vor dem Ende auch Verrat
Weitere Kostenlose Bücher