Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
nichts war zu- und nichts ab zu tun: nur die kürze war zu bedauern.« 26
Vier Wochen später sprach Cohrs in einem Brief an George erstmals von Desertion. Er war psychisch am Ende und
so unglücklich, dass eine Flucht aus diesem Staat in die Schweiz oder sonst ein freies Land als das einzig Gebotene erscheint und die einzige Möglichkeit, die menschlichen Kräfte ungebrochen und ganz vollkommen dem Leben zu erhalten und zu retten – das sind keine Augenblicksstimmungen, die ich nie, am wenigsten dem Meister, niederschreiben würde, sondern dauernde Nöte, von denen zu befreien ich den Mut hätte, sobald Einer mir die Hand reichte – und ich wäre dann gewiss, dass ALLES gerettet sei und sich so entfalten könnte wie nie zuvor, wie nie jetzt und hier. Ich schrieb und schreibe niemandem darüber – doch nimm DU es so ernst wie es ist. 27
George antwortete umgehend: »Deine zeilen enthalten etwas fast ordnungsloses und einen getrübten blick. Ein entrinnen gibt es jezt nicht – für keinen. am wenigsten eines auf das Du anspielst.« 28 Anfang Mai musste Cohrs erneut an die Front. Als sie sich im Januar 1918 für einige Tage in München wiedersahen, traten die unterschiedlichen Auffassungen über die Pflicht des Einzelnen im Krieg offen zu Tage. Nach Cohrs’ Abreise schickte ihm George einen Vierzeiler, in dem er den Krieg als große Katharsis deutete:
Du hast des lebens götterteil genossen
Von glück und rausch und schwärmen wunderbar..
Du darfst nicht murren, ward dir nun beschlossen
Des wahren lebens ander teil: gefahr. 29
Cohrs hatte panische Angst, wieder ins Feuer zu müssen. »Kein triumf wird sein, / Nur viele untergänge ohne würde«, hatte George in seinem im Sommer 1917 veröffentlichten Kriegsgedicht geschrieben: »Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.« 30 In dem Wust von »blei und blech, gestäng und rohr« war für Heldentum kein Platz, und die Gefahr, an der Front zu »brei und klumpen« zerschossen zu werden, wuchs mit jedem Tag, den dieser Krieg dauerte. Warum bestand George jetzt darauf, dass Cohrs wieder hinaus ging? Anfang 1917 hatte er eines der späten Hölderlin-Fragmente für ihn abgeschrieben: »Wir aber zwingen / Dem Unglück ab und hängen die Fahnen / Dem Siegsgott, dem befreienden auf. Darum auch / Hast du Räthsel gesendet.« 31 Aber konnte das wirklich ein Trost sein, verlangte George nicht Unmögliches? Hier klaffte zweifellos ein Widerspruch auf zwischen dem Pathos der Gedichte und dem, was er seinen jungen Freunden glaubte zumuten zu können. Cohrs verhehlte nicht, »dass es eine Grenze des Aushaltens gebe«, und erzählte von Kameraden, »die sich erschossen hätten, als sie das Kommando bekamen, wieder in das vorderste Gemetzel zu gehen«. 32
Die Militärs sprechen vom »stochastischen Faktor« und meinen jenen Moment, in dem »die Männer der kämpfenden Verbände zu der Einschätzung gelangen, dass ihre Überlebenschancen die Grenze zwischen einem zufälligen Tod und seiner offenbar statistischen Wahrscheinlichkeit überschritten haben«. 33 Genau an diesem Punkt stand der 21-jährige Artillerieoffizier, der sich ausgerechnet hatte, dass er beim nächsten Einsatz »dran« war. Wenn Friedrich Wolters noch im Juni 1918 in einem Brief an George von der »durchgeistigung der materialschlacht« schwärmen konnte, 34 dann nur, weil er nie selber im Schlamm gelegen hatte, sondern – dank seiner Verdienste um die Dissertation des Prinzen August Wilhelm – als Fahrer dem »Kaiserlichen Automobilkorps« zugeteilt gewesen war und nach Überwindung einer schweren Krankheit, die ihn für Monate ans Lazarettbett fesselte, auch am Schluss des Krieges wieder Dienst in der Etappe tat.
Cohrs versuchte einen weiteren Fronteinsatz mit allen Mitteln zu verhindern. Er kam zunächst nach Minden, wo er eine Stelle als Ausbilder
bei seiner Garnison erhielt, beantragte eine Kur und wurde im April 1918 in das Sanatorium Schierke im Harz überwiesen. Es gelang ihm, Bernhard von Uxkull, der im Lazarett in Bonn eine Rippenfellentzündung auskurierte, dorthin verlegen zu lassen, obwohl Uxkull nur Fähnrich war. Am 17. April luden sie George ein, sie in Schierke zu besuchen, sie dürften den Ort leider nicht verlassen. Anfang Mai machte George einige Tage Station im Harz. Es war das letzte Zusammensein der drei, und offenbar war es überschattet von unterschiedlichen Auffassungen über den Heldentod und die Sinnlosigkeit des Krieges. Cohrs blieb dabei, dass er nicht wieder an die Front
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