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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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unmittelbar nach der Lesung zurück«. 47 Das waren zehn. Robert Boehringer, der in der französischen Besatzungszone in Ingelheim lebte, ging George seit einiger Zeit aus dem Weg; offiziell hieß es, er habe kein Visum erhalten. Friedrich Wolters musste sich auf eine Vorlesung vorbereiten, er schickte eine Grußadresse. Wo aber waren die andern?
    Drei waren gefallen: Heinrich Friedemann, der Verfasser des Platon-Buches, Norbert von Hellingrath, der Entdecker der Hölderlin-Hymnen, und Wolfgang Heyer, ein Freund Hellingraths, der im Oktober 1917 vermisst gemeldet wurde. Bedenkt man, dass von den unmittelbar betroffenen, das heißt bei Kriegsausbruch eingezogenen Jahrgängen 1892 – 1895 jeder dritte Deutsche fiel, 48 hatte der Freundeskreis keinen hohen Blutzoll entrichten müssen. George ehrte die drei Gefallenen in den »Sprüchen an die Toten«. Der Totenkult, Maßstab und Grundlage geistiger Überlieferung, habe »durch den Schicksalswind des Krieges eine neue Fülle und Dichte« erlangt, schrieb Wolters, die Epitaphe seien »Sinnbilder des ganzen vaterländischen Geschehens« geworden. 49
    Unter den Ende 1919 in der Elften/Zwölften Folge der Blätter für die Kunst erstmals veröffentlichten Widmungen für die Kriegstoten standen auch zwei Gedichte auf Balduin von Waldhausen: ein Vierzeiler von George und ein längeres Gedicht von Wolters. Waldhausen,
der als Rhodes-Stipendiat Archäologie in Oxford studierte, hatte Wolters im Juli 1914 ins Berner Oberland begleitet und dort mit ihm und George die letzten Ferien vor Ausbruch des Krieges verbracht; im November 1917 hatte er George ein letztes Mal gesehen. Wie die anderen Totengedichte hielt auch der Vierzeiler auf Balduin von Waldhausen jenen Moment fest, in dem der Bewidmete in den Augen Georges die höchste Stufe seiner Existenz erreichte. Durch seinen Tod war er eins geworden mit dem Bild, das der Dichter immer schon von ihm gehabt hatte und das ihn überdauern würde:
    Mit welcher haltung ihr den markt durchrittet
Wie euer auge glänzte dieser tage
Und wie ihr standet, auf den strassen schrittet:
Ist fernes bild – gehört schon heut zur sage. 50
    Das war groß gesehen – allerdings lebte Waldhausen noch, als das Gedicht unter dem Reihentitel »An die Toten« im Dezember 1919 in den Blättern erschien. Er war im Frühjahr 1918 an der Front in Flandern irre geworden. Seine Mutter hatte ihn mit Unterstützung von Erika Wolters nach Berlin geholt. »Er will keine nahrung nehmen, manchmal tobt er, aber immer steht im mittelpunkt seiner irren reden, bald geliebt bald gehasst, der Meister.« 51 In Georges Augen hatte er ein anderes Los verdient. Deshalb listeten die Blätter für die Kunst 1919 einen Toten auf, der noch gar nicht gestorben war. 52 Warum auf den physischen Tod eines Menschen warten, der nur noch Hülle war und nie wieder zu seinem Bild zurückfinden würde?
    Wo es um die Durchsetzung seiner Form der Totenklage ging, nahm George, wie schon im Fall von Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs, wenig Rücksicht auf die tatsächlichen Geschehnisse. Auch wenn seine Härte zum Teil damit zusammenhängen mochte, dass er unfähig war, sich mit Krankheit und Tod auseinanderzusetzen – Krankenbesuchen und Beerdigungen ging er am liebsten aus dem Weg -, so steckte dahinter doch auch ein poetologisches Prinzip. Der Primat der Dichtung musste um jeden Preis gewahrt bleiben, nur so waren die Katastrophen dieser Jahre einigermaßen zu bewältigen. Der Krieg erwies sich als Katalysator, der die Gesetzmäßigkeiten des
Geistigen schärfer hervortreten ließ. Die Seinen, berichtete George schon 1916 nicht ohne Stolz, empfänden allesamt »das Episodische des Krieges«. 53 »Die jüngsten / Der teuren sandt er aus mit segenswunsch«, so schilderte er in seinem großen Kriegsgedicht die Stunde des Abschieds und schwärmte: »Sie wissen was sie treibt und was sie feit.. / Sie ziehn um keinen namen – nein um sich.« 54 Diese Einstellung zum Krieg war so ungewöhnlich nicht. Sie entsprach dem in sämtlichen kriegführenden Nationen weit verbreiteten Wunsch, erst einmal die eigene Haut zu retten. Zumal in den unteren Schichten und auf dem Land, wo die Kriegspropaganda sehr viel weniger erfolgreich war, als die Historiker lange Zeit annahmen, fasste man den Krieg als persönliche Bewährungsprobe auf.
    Als sie ausrückten, hatte George viele seiner Freunde mit kurzen Aufmunterungen wie diesen bedacht: »lieber Hans: wie jedem von euch sag ich auch dir dass das

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