Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
bestenfalls als Kauzigkeit oder Spleen gehandelt. Neben dem Meister treten nur Komparsen auf. Nicht viel besser sieht es in der kritischen George-Literatur aus. Hier endet jede biographische Annäherung an den Meister früher oder später in der Beschäftigung mit dem »Kreis«, das heißt mit dem, was die lesende Öffentlichkeit seit etwa hundert Jahren unter diesem Begriff versteht. Über diesen »Kreis« wollte ich schon deshalb nicht schreiben, weil es ihn so, wie er imaginiert wurde, nie gegeben hat. (Im Text habe ich zu differenzieren versucht: George und die Seinen, Freundeskreis, innerer Kreis usw. und das Wort »Kreis« nur da verwendet, wo es keine qualitative Wertung impliziert und lediglich beschreibende Funktion besitzt.)
Er sei immer wieder überrascht, konstatierte Eckhard Heftrich 1968 auf dem Kölner George-Kolloquium, wie in der George-Literatur mit den Quellen umgegangen werde. Statt nach der Glaubwürdigkeit zu fragen, nach der Beweiskraft eines Dokuments innerhalb seines jeweiligen Bezugsrahmens, werde unterschiedslos zitiert, was gerade passt. »Ob der Chronist Boehringer oder Hildebrandt heißt, gilt den Interpreten gleich.« An diesem Befund hat sich nicht viel geändert, noch immer scheint Quellenkritik in
der George-Literatur eine exotische Disziplin zu sein. Niemand stößt sich daran, dass ein Großteil der als authentisch gehandelten Texte in Wahrheit von der Peripherie stammt. In der Sekundärliteratur häufig zitierte Autoren wie Salin und Hildebrandt haben nie zum inner circle gehört. Dagegen haben viele der Freunde, die George über Jahre eng verbunden waren – in der zweiten Lebenshälfte etwa Albrecht von Blumenthal, Berthold von Stauffenberg, Johann Anton oder Frank Mehnert – kaum Gedrucktes hinterlassen. Mit Vorliebe werden von der Wissenschaft Texte herangezogen, die eine in sich kohärente, die tatsächlichen Verhältnisse stark idealisierende Kreis-Wirklichkeit vorspiegeln.
Da sich der »Kreis« in jedem Lebensabschnitt aus anderen Personen zusammensetzte, war die für mich entscheidende Frage, in welcher Phase seines Lebens George sich um welchen Menschen besonders bemühte, von wem er wann in welcher Weise gefesselt war, wer ihn wie beeinflusste. Das Dutzend Freunde, das im Laufe seines Lebens prägend auf ihn wirkte, war schnell beisammen, und so ergab sich fast wie von selbst die Periodisierung des Ganzen. Die zweite Herausforderung lautete, George in den konkreten Bedingungen seiner Zeit darzustellen und die Zeitgenossenschaft transparent zu machen. Großen Gewinn bei der Formulierung der Fragestellungen zog ich aus der Lektüre der Bücher von Heinrich Detering (2. Aufl. 2002), Klaus Christian Köhnke (1996), Klaus Lichtblau (1996) und Kurt Sontheimer (1962). In der George-Literatur war neben dem unbestechlichen Boehringer und der unentbehrlichen Zeittafel die grundlegende Studie von Carola Groppe (1997) eine stets zuverlässige Quelle.
Um die jeweilige Position Georges in seiner Zeit deutlicher zu machen, habe ich ihm nacheinander drei der führenden deutschen Denker des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt: Georg Simmel im ersten, Max Weber im zweiten, Walter Benjamin im dritten Teil. Alle drei haben nicht nur in kritischer Distanz und aus je eigenen Motiven zum Ruhm Georges beigetragen; alle drei verdanken ihm auch wesentliche Impulse für ihr eigenes Werk. Als der heimliche Antipode aber erwies sich im Laufe der Arbeit immer mehr ein anderer schreibender Homosexueller, einer, der früh die Camouflage gewählt und sich für ein Doppelleben in der Bürgerlichkeit entschieden hatte: Thomas Mann. Seine Biographie und die Georges sind indirekt auf vielfache Weise verknüpft: von seinen ersten Ausfällen gegen Oskar Panizza 1895 bis zu dem späten Wunsch, wie George in der Schweiz begraben zu werden; von den heftigen Diskussionen um den Tod in Venedig bis zu den versteckten Anspielungen in den Betrachtungen eines Unpolitischen .
Das Werk Thomas Manns gilt heute als das große Vermächtnis der deutschen Literatur des vergangenen Jahrhunderts. Das Werk Stefan Georges ist in der Öffentlichkeit nicht mehr präsent. Eine Rezeptionsgeschichte, die zugleich Ideengeschichte wäre, gehört sicher zu den spannendsten Desiderata
der George-Literatur. Mein Ziel war es, ein biographisches Fundament zu schaffen, das den Zugang zur Person künftig erleichtert und vielleicht auch zur weiteren Beschäftigung mit dem Werk anregt. Über das Werk selbst habe ich im Wesentlichen nur das
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