Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
gedeutet:
Plötzlich empfand Daija ihre innere Unruhe als kaum noch tragbare Qual. Sie musste endlich einem Deuter des Lebens ihr Herz öffnen. Sie fragte sich in ihrer Not nicht, ob Bertrand [d.i. Stefan George] der Richtige sei, sie zu beraten; und wen sonst hätte sie ins Vertrauen ziehen sollen? … Und Daija sprach … Schliesslich, da ihre Worte ihr nicht genügten, reichte sie ihrem Gefährten den Brief, den sie diesen Morgen empfangen hatte. Er las langsam und sehr eindringlich; dann fragte er: »Sind Sie überzeugt, dass dieser Mann Sie wirklich kennt? Dass er alle Ihre Möglichkeiten ahnt? Dass seiner Bezauberung durch Ihre äussere Erscheinung nicht eine Unfähigkeit, Ihr inneres Wesen zu erfassen, gegenübersteht? – Geben Sie mir jetz keine Antwort. Lassen Sie mich heute Abend noch Ihnen schreiben.« Sein Brief verriet den Zwiespalt, in den Daijas Bekenntnis ihn gestürzt hatte;
er empfand Misstrauen gegen den ihm Unbekannten. Aber noch etwas anderes klang aus seinen Worten: zum ersten Mal liess er Daija seine eigene Empfindung für sie ahnen. Er sprach von dem Jammer, der es sein würde, wenn ein anderer Wunsch, als der, sie glücklich zu machen, um sie würbe. Wenige Tage später sandte er Daija ein wehmütig resignierendes Gedicht. Dann reiste er früher ab, als es seine Absicht gewesen war. 50
Der Originalbrief ist überliefert. George antwortete mit einem Gleichnis aus Wagners Siegfried : Die Frage laute, ob Brünnhilde gebrochen oder geläutert werde, wenn sie den Gedanken an Siegfried aufgeben müsse, und ob umgekehrt Siegfried ihr so viel bedeute, dass sie bereit sei, auf alle anderen Leidenschaften zu verzichten, falls er es befehle. Und dann folgte jener Satz, den Ida in ihrem Roman aufgriff und doch entscheidend abwandelte: »Es wäre ein jammer wenn Sie um irgend etwas (der leiseste verdacht muss weit fliehen) umworben sein sollte als um ihrer herrlichen gaben willen.« 51 George schätzte sie wegen ihrer Einfühlsamkeit, aber er sprach nirgends davon, sie glücklich machen zu wollen. Hätte sie gleichwohl wissen müssen, dass ihr Bekenntnis zu einem anderen Mann ihn verletzte? War es nicht naiv gewesen, George einzuweihen? Dieser versuchte, den Gedanken einer direkten Rivalität gar nicht erst aufkommen zu lassen, und deutete vorsichtig an, der Leutnant a. D. wisse ihre »herrlichen gaben« gar nicht zu schätzen und liebe möglicherweise bloß ihr Äußeres.
Ende November fuhr George aller Wahrscheinlichkeit nach über Paris nach Lüttich, um bei einer ihm von Albert Saint-Paul empfohlenen billigen Druckerei 90 Exemplare des Algabal abzuholen (zuvor hatte er sich einen Kostenvoranschlag über 250 Exemplare sowie zehn Probedrucke machen lassen). Welches Gedicht er Ida bei seiner Abreise hinterließ, ist nicht zu rekonstruieren. Seit der Fertigstellung des Algabal im Dezember 1891 hatte er keine Gedichte in deutscher Sprache mehr geschrieben. Jetzt, Ende 1892, wurde er wieder produktiv. Quelle der Inspiration war niemand anderes als Ida Coblenz. Bis in den Herbst 1895 – und darüber hinaus – schrieb George mehr
als fünfzig Gedichte (sowie mehrere Prosastücke), die direkt oder indirekt an die Freundin gerichtet waren. Die ersten erschienen 1893 in den Blättern für die Kunst , die letzten 1907 unter den Liedern des Siebenten Rings . Nicht weniger als fünf Zyklen stehen im unmittelbaren Erlebniszusammenhang mit ihr: die Sänge eines fahrenden Spielmanns sowie der Mittelteil im Buch der Hängenden Gärten , von ihr gern »Semiramislieder« genannt; Nach der Lese und Waller im Schnee im Jahr der Seele sowie, im gleichen Band, als letzter Versuch, das drohende Ende noch einmal hinauszuschieben, die Traurigen Tänze . Eines der schönsten unter den Liedern des Siebenten Rings lautet:
Im windes-weben
War meine frage
Nur träumerei.
Nur lächeln war
Was du gegeben.
Aus nasser nacht
Ein glanz entfacht –
Nun drängt der mai,
Nun muss ich gar
Um dein aug und haar
Alle tage
In sehnen leben. 52
George hat Ida Coblenz vier Jahre lang, vom Sommer 1892 bis in den Herbst 1896, still umworben, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass die Umworbene die Werbung gar nicht ernst nahm. »George, vor dessen immer kalten Händen mir leise graute, behielt mit seiner pergamentenen Haut etwas Unlebendiges.« 53 Dieser Mann, da sei sie sich vom ersten Moment an sicher gewesen, würde nie »das Blut einer Frau erwärmen können«. 54 Sie habe sich immer nur als Partnerin verstanden, »an ein Mehr bei ihm
Weitere Kostenlose Bücher