Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
Vom Netzwerk:
und es gibt keinen Grund, an ihrer spontanen Begeisterung zu zweifeln. Nur Fritz George war damit noch nicht geholfen. Nachdem er vergeblich versucht hatte, seinem Bruder Idas Lob über die Gedichte wiederzugeben, musste er sie noch einmal um Hilfe bitten. »Er habe seinem Bruder nach München von mir geschrieben, aber er habe das nicht so recht auszudrücken verstanden, was ich ihm gesagt habe«, erinnerte sich Ida Coblenz. »Sein Bruder ließe mich bitten, meine Meinung über die Gedichte ihm, dem Fritz, schriftlich zu wiederholen.« Das war zwar alles ein wenig umständlich, aber endlich mit einem richtigen Dichter ins Gespräch zu kommen, der noch dazu aus Bingen stammte, war für die junge Frau verlockend genug. Schon damals sah sie sich am liebsten in der Rolle der Muse, einer Rolle, die sie ein Leben lang mit großer Überzeugung spielen sollte. »Es gibt für mich kein Glück der Welt, das sich mit dem messen kann, Zeugin der schmerzlosen Geburt eines vollendeten Kunstwerks zu sein.« 32
    Ida Coblenz kam am 14. Januar 1870 als dritte Tochter des Kommerzienrats Simon Zacharias Coblenz und seiner Frau Emilie, geborene
Meyer, in Bingen auf die Welt. Das stattliche, im Stil der Gründerzeit repräsentativ eingerichtete Elternhaus in der Kirchstraße 3 (heute Basilikastraße) lag in einem großen Garten, der direkt an den Kirchgarten anstieß. Der Großvater mütterlicherseits, der zu Vermögen gekommen war und ein prächtiges Haus am Marktplatz bewohnte, hatte die Einwilligung zur Eheschließung seiner Tochter davon abhängig gemacht, dass sein künftiger Schwiegersohn sich in Bingen niederließ. Unter seiner Leitung gehörte die international tätige Weinhandelsfirma Meyer & Coblenz bald zu den Großen der Branche.
    Ida Coblenz hat das gesellschaftliche Gefälle zwischen ihrem Elternhaus und dem Georgeschen gern betont. Für Fritz George, »der ein harmloser, freundlicher, netter, guter Tänzer war«, habe es einen sozialen Aufstieg bedeutet, »in unseren Kreis zu kommen«. Auch Idas erste Erinnerung an Stefan war nicht frei von Dünkel. An einem Sonntagnachmittag – »es mag 1884 gewesen sein« – sei sie mit einigen Freundinnen am Rheinkai spazieren gegangen, als ihnen »ein blasser hagerer Junge im Gehrock, zur Seite seiner auch farblosen altjüngferlichen Schwester«, entgegenkam. »Die Backfische kicherten: ›S’Schorsche Schtefan‹.« Worüber sie sich am meisten belustigten, war der Gehrock, den katholische Knaben eigentlich nur zur Erstkommunion trugen. Wer mit 15 oder 16 noch in solcher Tracht promenierte, wollte offenbar etwas Besonderes sein, wirkte aber nur reichlich komisch. 33 George seinerseits erinnerte sich noch 1930, dass Ida Coblenz »in Bingen als extravagant bekannt« gewesen sei. Den Klassenunterschied auf den Kopf stellend fügte er hinzu: »Man brauchte sich ihrer nicht zu schämen.« 34
    1878, ein halbes Jahr nach der Geburt einer vierten Tochter, war Idas Mutter gestorben. Häufig wechselnde Hausdamen übernahmen fortan die Erziehung der Kinder. Der Vater, der nur sein Geschäft im Sinn hatte, kümmerte sich wenig, reagierte aber empfindlich auf die musischen Interessen Idas, die ihre Leiden heimlich einem Tagebuch anvertraute. Eines Tages waren die Blätter verschwunden. Ida wurde vom Vater zur Rede gestellt und erhielt eine Tracht Prügel.
»Du brauchst mir nicht zu sagen, dass Papa nur mein Bestes im Auge hat«, schrieb sie später an ihre älteste Schwester. »Papa ist mir nie eine Stunde lang Vater gewesen, nie hat er mir auch nur eine Liebkosung gegönnt.« 35 Für den Kommerzienrat Simon Zacharias Coblenz gab es keine andere väterliche Pflicht als die, seine Tochter gut zu verheiraten. Kaum hatte Ida die Binger Privatschule beendet, kam sie auf ein Pensionat nach Brüssel, das höhere Töchter auf die Ehe vorbereitete.
    Hier wurde Ida zum ersten Mal mit offenem Antisemitismus konfrontiert. Der Vater war ebenso wie die Großeltern Meyer seit langem assimiliert; er interessierte sich weder für die jüdischen Feiertage noch für die Binger jüdische Gemeinde, die um 1890 etwa sechshundert Mitglieder zählte. Der Posten des Präsidenten der Handelskammer war ihm wichtiger. Ida nahm die erste Gelegenheit wahr, aus Brüssel zu fliehen und nach Hause zurückzukehren. Sie fühlte sich oft unwohl, verbrachte viel Zeit im Bett und »wirkte bisweilen tagelang apathisch«. Die inzwischen zur Unterstützung des Binger Haushalts angereiste Großmutter hielt das alles für »Allüren

Weitere Kostenlose Bücher