Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
habe ich niemals gedacht«. 55 Ihr gesunder Instinkt habe sie davor bewahrt, suchte sie sich Jahre nach Georges Tod noch einmal Rechenschaft abzulegen, sich auf etwas einzulassen, was nur in einer Katastrophe für beide hätte enden können. Und dann steht da im Tagebuch der 67-Jährigen der Satz, der
alles erklärt: »Sein Leib war mir so fremd, als gehöre er einem anderen zoologischen Bereich als ich an.« 56
Georges Gedichte an Ida Coblenz sind grandiose Variationen der Trauer über eine von Anfang an aussichtslose Beziehung. In einem »Lezten Brief«, geschrieben wohl bald nach dem definitiven Bruch im November 1896, machte George der Freundin von einst bittere Vorwürfe. Er habe immer auf das erlösende Wort gewartet, ein Wort, »das du hättest finden müssen und das mich hätte retten können … aber für das eine wort bist du stumm geblieben«. Eigentlich sei, was er erwartet habe, viel weniger gewesen als ein Wort, eher »ein hauch, eine berührung!« Er selber hätte ja gern den ersten Schritt getan, aber »ich konnte es nicht sagen, ich konnte es nur in träumen ahnen, auch hätte ich es nicht sagen dürfen, da du es hättest finden müssen«. 57 Aber wie hätte es lauten sollen, dieses eine Wort?
Ida Coblenz fühlte sich erotisch nicht zu George hingezogen, im Gegenteil, seine ganze Erscheinung wirkte auf sie beklemmend. Und George? Der 24-Jährige hoffte, durch die neue Freundin auf wunderbare Weise doch noch aus seinen erotischen Verwirrungen befreit zu werden. Vielleicht verstand sie ihn ja, vielleicht zeigte ihm die Natur ja doch noch einen Weg zum anderen Geschlecht. Der Druck, endlich Gewissheit zu erlangen, ist in den Gedichten auf beklemmende Weise greifbar: »Wenn ich heut nicht deinen leib berühre / Wird der faden meiner seele reissen / Wie zu stark gespannte sehne.« 58 Zeilen wie diese lassen kaum einen Zweifel, dass George die körperliche Nähe zu Ida Coblenz suchte, obwohl – oder gerade weil – er seine homoerotischen Neigungen kannte. Ob ihn die latente Angst vor der Intimität mit dem anderen Geschlecht lähmte, oder ob ihn mehr die Sorge umtrieb, zurückgewiesen zu werden, sobald er sich offenbarte, ist schwer zu entscheiden. Rückschlüsse auf den tatsächlichen Verlauf der Beziehung lassen die Gedichte kaum zu, sie spiegeln fast nie das unmittelbare Empfinden ihres Verfassers. »Die kunst – meine kunst vielmehr – kann kein erlebnis keine erregung unmittelbar wiedergeben. sie wartet auf die rhythmische umsetzung.« 59 Fast alle Gedichte sind retrospektiv, aus dem Abstand von Tagen, oft Wochen geschrieben.
Erst wenn ein Erlebnis verarbeitet war, konnte es im Gedicht neu gestaltet werden.
Dennoch lassen sich bestimmte Gedichte und Gedichtgruppen, etwa aufgrund der Jahreszeit und mit Hilfe der Korrespondenz, genauer einordnen. Auch das ständige Auf und Ab im Verhältnis zu Ida Coblenz hinterließ deutliche Spuren. Wenn sie ihn über Tage hinhielt und das von ihm ersehnte Treffen im letzten Augenblick doch noch absagte, weil sie sich unpässlich fühlte, wurden eben auch die Gedichte verzweifelter. Unternahmen sie lange Spaziergänge, zu denen sie sich meist nachmittags an der Post oder an der Schule verabredeten, um ins Nahe-Tal oder auf den Rochusberg zu gehen, zeugten eben auch die Gedichte von neuem Mut. Einmal fuhren sie ins nahe gelegene Bad Kreuznach, wo die in Oberstein geschliffenen Edelsteine, so genannte Obersteiner Waren verkauft wurden, um für Ida einen Smaragd auszusuchen. Ein andermal herrschte schlechte Stimmung. »Am nächsten Morgen kam er und sagte: ›Ich habe heute nacht für Sie Verlaine übersetzt.‹ Er wandte den Blick von mir weg und sprach:
Wir müssen – siehst du – uns versöhnlich einen
So können wir noch beide glücklich werden
Und trifft auch manches trübe uns auf erden:
Sind wir doch immer nicht wahr? zwei die weinen 60
Ende 1892, als Ida ihm die Liebesbriefe Heinz von Hahns zeigte und ihn fragte, wie sie sich verhalten solle, waren die ersten Wolken über ihrem Verhältnis aufgezogen. 61 Aus den Jahren 1893 und 1894 gibt es nur wenige Nachrichten, kein einziges Schriftstück aus der Zeit zwischen Mai 1893 und Februar 1894 hat sich erhalten. Ida Coblenz führte George bei der jung verwitweten Luise Brück ein, die einen kleinen literarischen Zirkel unterhielt und später mit Geschichten aus der Binger Heimat dilettierte. 62 Am häufigsten aber gingen sie spazieren, im Frühjahr 1893 in Bingen, im Herbst in München, wo Idas zweite
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