Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Gründung des Bankhauses Heyum Wolfskehl & Söhne durch den Urgroßvater zum Kreis der etablierten Hofjuden des Großherzogtums. Der Vater, Otto Wolfskehl, der die Bank in den sechziger Jahren übernommen hatte und bis 1881 selbständig weiterführte, war viele Jahre Präsident der Handelskammer wie auch Vizepräsident der Zweiten Kammer des hessischen Landtags. In der familieneigenen Überlieferung führten sich die Wolfskehls auf die Calonymiden zurück, die es im 10. Jahrhundert von Lucca nach Mainz verschlagen hatte. Karl Wolfskehl war stolz auf diese Genealogie – »jüdisch, römisch, deutsch zugleich« 50 – und hielt auch nach seiner Vertreibung 1933 unbeirrbar daran fest.
Am 17. September 1869 in Darmstadt geboren, besuchte Wolfskehl von 1878 an neun Jahre das Ludwig-Georgs-Gymnasium und legte im Herbst 1887 die Reifeprüfung ab. Gut ein Jahr jünger als George, beendete er die Schule ein halbes Jahr vor diesem. Er ging zum Studium der Germanistik an die Universität Gießen, belegte als Nebenfächer Geschichte, Archäologie und Religionsgeschichte, hörte ein Semester in Leipzig (unter anderem bei Rudolf Hildebrand, dem legendär ausufernden zweiten Herausgeber des Grimmschen Wörterbuchs
), anschließend zwei Semester in Berlin und promovierte 1893 bei Otto Behaghel in Gießen über Germanische Werbungssagen. Mit dem väterlichen Vermögen im Rücken konnte er fortan seinen Leidenschaften frönen: dem Reisen, dem Lesen, dem Sammeln. Wolfskehls Sammelwut erstreckte sich auf alles, was beweglich war: Spazierstöcke und Zigarrenspitzen, Wallfahrtsdrucke und Jahrmarktzettel, Autographen und seltene Bücher – »einen Juden ohne Bücher kann man sich gar nicht vorstellen«. 51 Im Dezember 1898 heiratete er die Tochter des Darmstädter Kapellmeisters Willem de Haan und ließ sich dauerhaft in München nieder.
Während des Studiums in Gießen hatte sich Wolfskehl mit dem gleichaltrigen Georg Daniel Eduard August Geilfuß befreundet, der unter dem Namen Georg Edward in der ersten und zweiten Folge der Blätter Gedichte veröffentlichte. 52 Edward, der über den Kommilitonen Carl Rouge mit Stefan George in Verbindung gekommen war, machte den Freund sogleich mit der neuen Lyrik bekannt: »Kaum hatte ich Wolfskehl die Gedichte Georges vorgelegt, als er bei unseren Spaziergängen anfing, Strophen daraus zu zitieren, und es dauerte gar nicht lange, bis er erklärte, etwas so Herrliches gebe es nicht mehr in der deutschen Literatur. Und nun predigte er mir eindringlichst, ich solle keine Balladen und Lieder mehr schreiben, alles, was ich gedichtet und was ihm bis dahin gefallen habe, sei das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben stehe.« Wolfskehl selbst hat die Lektüre als die große Wende seines Lebens begriffen. »Plötzlich war die Welt zwar nicht ›vollkommen‹, aber sie hatte einen Sinn erhalten, man wusste, warum man da war und zu welchem Ende«, schrieb er 1928 zu Georges 60. Geburtstag in der Literarischen Welt . »Dies ewige Grunderlebnis, auf dem jeder einzelne Stein meines Lebensbaues ruht«, heißt es ein Jahr später in einem Brief an Hofmannsthal, »ist unverrückbar tief versenkt und mir selber wie am ersten Tage in jedem Atemzuge, jedem Handrecken, jeder Hingabe und jeder Abkehr vernehmlich.« 53
Bekenntnisse dieser Art sind in der George-Literatur nicht selten. Als immer wiederkehrendes Grundmotiv durchziehen sie, mehr oder
weniger authentisch, die Erinnerungen derer, die im Jünger-Dasein ihre Erfüllung fanden. In der Regel ging ihnen dabei die Person über die Dichtung; Georges Wirkung erschloss sich ihnen in erster Linie – und den Adepten der späteren Jahre ausschließlich – über die Persönlichkeit. Anders Wolfskehl. Für ihn zählte allein die Ergriffenheit durch das Wort. Das Gedicht galt ihm als autonomes Gebilde, in dem alles Wissenswerte enthalten war. Die persönliche Begegnung mit George im Oktober 1893 in München hat er weder gesucht, noch brachte sie ihm nach eigener Aussage irgendeinen Gewinn: »Von ihm als Erscheinung, Schicksal, Lebensgang erfuhr ich nichts, die magische Wirkung ging aus einzig und allein vom Werke selber, vom gestalteten Wort. Dies so sehr, so ausschließlich, dass nicht einmal der Wunsch rege ward, Einzelnes, Äußerliches zu erfahren.« 54
George hatte sich zum Wintersemester an der Universität München eingeschrieben. Inmitten all der »verkannten Genies, die damals rudelweise in Schwabing Tee tranken«, 55 fühlte er sich ziemlich isoliert.
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