Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
schönen wallfahrt verklärt« bedürfe der permanenten Erneuerung durch die nächtliche Feier, erst »im dämmern in den schauern eines geahnten entzückens wird der mensch dem menschen offenbar … wie wollten wir leben wenn wir nicht den reigen schlängen?« 65
Im rauschhaften Ergriffensein durch das Wort lag für Wolfskehl der Schlüssel der Freundschaft. Das gemeinsame feierliche Lesen von Gedichten war die meditative Grunderfahrung, die sein Verhältnis zu George bestimmte. Die Beschwörung des dichterischen Wortes in kleiner Runde wird im 16. Gedicht des Vorspiels beschrieben. Die Vielfalt und Buntheit des Lebens berge zwar eine Fülle von Anregungen, heißt es dort,
Doch ist wo du um tiefste schätze freist
Der freunde nächtiger raum, schon schweigt geplauder
Da bebt ein ton und eine miene kreist
Und schütteln mit der offenbarung schauder.
Da steigt das mächtige wort – ein grosses heil –
Ein stern der auf verborgenen furchen glimmert
Das wort von neuer lust und pein: ein pfeil
Der in die seele bricht und zuckt und flimmert. 66
Wolfskehls Fähigkeit zur Evokation wurde von vielen Zeitgenossen gerühmt. In einem Aufsatz zu seinem 60. Geburtstag erinnerte sich Walter Benjamin an einen lang zurückliegenden gemeinsamen Abend bei Franz Hessel. Irgendwann sei Wolfskehl aufgestanden, habe Das Jahrhundert Goethes aus dem Regal gezogen und Lenaus »Schläfrig hangen die sonnenmüden blätter« aufgeschlagen:
Diese dreiundvierzig trochäischen Verse las er. Und als ich sie nun von ihm zum ersten Male hörte, rückten in meinem Innern die paar Gedichte, die da seit Jahren oder Jahrzehnten hausen, zusammen, um einen letzten spätesten Fremdling unter sich aufzunehmen. Zu Hause war mein erstes, die Anthologie, aus der er gelesen hatte, zu suchen. Nicht das Gedicht, das Wolfskehl uns gelesen hatte, allein, diese ganze Sammlung war mir erschlossen. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, da man inne wird, wie alle Lyrik sich zuletzt nur mündlich fortpflanzt und bildet … Hier nun hatte eine wahrhaft hermetische, eine geleitende Stimme im Flusse der Lenauschen Worte stromaufwärts mich in die unwegsamen Höhen geführt, wo um 1900 … die deutsche Dichtung war erneuert worden … Vielleicht war dies das Unvergeßliche der Stunde, von der ich hier sprechen wollte; das Gedicht aus ihm sich heben zu sehen wie einen Vogel aus dem gewaltigen Sagenbaum, in dem er mit Tausenden seinesgleichen nistet. 67
Was Wolfskehl in solchen Momenten gelang, die Worte klingen zu lassen und das Gedicht aus sich selbst heraus zum Sprechen zu bringen, blieb ihm in seiner eigenen Lyrik, jedenfalls bis 1933, versagt. Seine ekstatisch gestammelten Verse, immer stark überhitzt, ermüden den Leser schnell. Die Melodie hält dem Rhythmus nicht Stand, alles Lyrische wird hinweggespült von einer dunklen, diffusen Bilderflut. Gleichwohl schätzte George Wolfskehls Gedichte und verteidigte sie als Weiterführung auf der Basis des von ihm Erreichten: »ich sehe in ihm den einzigen unter den ›Jungen‹ der die forderung begriffen nicht aus einem erzählchen heraus sondern aus rausch und rhythmus heraus zu schaffen. der nicht wie wir sich durchgerungen sondern nachdem er unsre bildung genossen sofort mit dem neuen beginnt.« 68
Wolfskehl suchte dem Meister nachzustreben, ohne ihn nachzuahmen, und war wie die meisten Blätter -Dichter glücklich, wenn dieser Hand anlegte und korrigierte. George verkörperte für ihn den schöpferischen Menschen, den Schaffenden, den Künstler schlechthin,
während er, Wolfskehl, nur wiedergab, nur reproduzierte. In seinen Augen war das keine Frage unterschiedlicher dichterischer Potenz, sondern eine Seinsfrage, die jeden Vergleich von vornherein ausschloss. Als Georg Edward, der Gießener Kommilitone, der nach dem Studium in die USA gegangen war, ihn 1911 in München besuchte und meinte, viele seiner Gedichte gefielen ihm besser als die Georges, sprang Wolfskehl »von seinem Stuhle auf, lief mit großen Schritten von einer Ecke des Zimmers bis zur anderen und erklärte, das sei ein ›tempelschänderisches Urteil‹, seine Sachen seien nicht wert, mit denen des Meisters verglichen zu werden, es gebe keinen Menschen, keinen Dichter, keinen Künstler, der an ihn heranreiche.« 69
In den Blättern für die Kunst standen Wolfskehls Gedichte hinter denen von Hofmannsthal, Gérardy und Lieder; nach deren Ausscheiden wurden sie fast immer im direkten Anschluss an Georges eigene Beiträge gedruckt. Auch wenn
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