Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
gestützt wird. Mehrmals sprach er von Ihnen, immer sehr sanft von Ihnen gesprochen . Es macht ihn krank, dass er sich mit Ihnen überworfen hat, er hätte den Streit am folgenden Tag beigelegt, aber er konnte sich nicht aufrecht halten. Tun Sie mir und ihm den Gefallen, ein paar Worte zu schreiben … denn noch zwei Wochen, und der arme Perls wird nicht mehr am Leben sein.« Drei Tage später, nachdem er den Kranken unter größten Anstrengungen auf den Zug nach München gebracht hatte, war Lieder vollkommen am Ende: »Es ist Ihnen absolut unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was ich in den letzten acht und besonders in den letzten drei Tagen durchgemacht habe. Wenn er nicht abgereist wäre, hätte ich mich nicht länger um ihn kümmern können, ganz einfach, weil ich nicht mehr die Kraft dazu hatte.« 36
Zwei Monate später brach auch Lieder seine Zelte in Paris ab und fuhr über Bingen, wo er drei Tage Zwischenstation machte, zurück nach Warschau. Er hörte auf zu dichten, dilettierte weiter an diversen Wörterbüchern und reiste auf der Suche nach alten Folianten, in denen er untergegangene polnische Namen zu finden hoffte, mit einem Bauernkarren über die Dörfer. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitete er in einer Metallfabrik und gab Französischkurse für Buchhalter. Ende September 1906 besuchte er George noch einmal kurz in Berlin. Am 25. April 1912 starb er im Alter von 45 Jahren in Warschau.
Perls lebte noch anderthalb Jahre. Sein körperlicher Verfall nahm grauenhafte Formen an, und »allmählich ging sein Wesen in Irrsinn
über«. 37 Als sich George im August 1897 zur Internationalen Kunstausstellung der Secession mit seiner Schwester einige Tage in München aufhielt, ließ Perls ihm über Lessing ausrichten, dass er ihn gern noch einmal sehen würde: »Die Aussprache solle sein Leben schließen.« George lehnte ab. Er wolle Perls so »im Gedächtnis bewahren, wie er in Flandern war«, helfen könne er ihm ja doch nicht. »Ich hasste Georges Härte«, schrieb Lessing, »und begriff sie doch, als ich Perls das letzte Mal sah, in einer Wanne voll heissen Wassers, weil schon die Berührung des Hemdes die von Geschwüren bedeckte Haut folterte. Er schrie und wimmerte; kein Wärter hielt stand.«
Richard Perls starb am 24. November 1898 im Alter von 26 Jahren. Es war ein Donnerstag. George verschob die für den darauf folgenden Sonntag im Hause Lepsius in Berlin geplante Lesung um eine Woche und stellte für die nächste Nummer der Blätter einige Gedichte zum Gedenken an Perls zusammen. »Hinter diesem TOTEN ziehen betrübt die dichter die ihn liebten«, schrieb er an Wolfskehl mit der Bitte, einige Verse zu dem Kranz beizutragen, »den ich für Ihn flechten will«. Die Lesung eröffnete er mit den Worten: »Wir lesen zu Anfang aus dem Werk eines verstorbenen Bruders, der mit uns den Traum geschaut hat: Richard Perls.« Es war die erste Totenfeier, die George inszenierte. Zufällig fiel sie auf den 4. Dezember. Es war der Tag, an dem er 35 Jahre später selber starb. 38
Morphinisten und Melancholiker, deren Lebenswille nicht übermäßig stark entwickelt war; suizidgefährdete Bohemiens, die sich auszuzeichnen glaubten, indem sie die Welt mit Verachtung straften; Traumtänzer, die sich beim geringsten Widerstand ins Luftreich ihrer Phantasien zurückzogen: In der späteren heilsgeschichtlichen Perspektive von Wolters wurden Gérardy und Rassenfosse, Lieder und Perls und manch anderer zu ahnungsvollen Vorboten einer schöneren Georgeschen Welt aufgeputzt. George selbst war davon überzeugt, dass sie durch das Zusammensein mit ihm auf eine Seinshöhe geführt worden waren, die sie nie wieder erreichten. »In dem Moment, in dem sie ihr höchstes Leben hatten«, habe er ihr Bild für immer festgehalten. »Was sie nachher mit ihrem Leben anfingen, ob sie nach
Java gingen und Kaffee pflanzten (wie Dauthendey), ob sie Literatur machten oder es vorzogen, ihr Leben mit Huren hinzubringen, das geht nur die betreffenden Herren selbst an.« 39
Auf den soziologischen Nenner gebracht, handelte es sich um Außenseiter, die es früh aus der Bahn geworfen hatte. Als »gemeinsames Hauptmerkmal« ihrer Gedichte hat David »vor allem Müdigkeit« konstatiert: »Sie lieben das Dämmerlicht, die Erinnerungen, die einsame Meditation.« 40 Und doch spielte jeder dieser Dichter auf seine Weise eine Zeitlang eine nicht unwichtige Rolle im Leben Georges. Immerhin war es Richard Perls, der als Erster
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