Stefan Zweig - Gesammelte Werke
von diesem Erzverschwender Fundament und Figuren sich borgen.
Darum hilft es nichts, die Nase zu rümpfen über seine zweideutige Begabung oder moralisch zu tun wegen seiner gesetzwidrigen irdischen Konduite oder gar ihm seine philosophischen Läppereien beckmesserisch anzukreiden – es hilft nichts, es hilft nichts, dieser Giacomo Casanova gehört nun einmal zur Weltliteratur, ebenso wie der Galgenbruder Villon und allerhand andre dunkle Existenzen, und wird unzählige moralische Dichter und Richter überdauern. Wie im Leben, so hat er auch post festum alle gültigen Gesetze der Ästhetik ad absurdum geführt, den Katechismus der Moral frech unter den Tisch geschmissen, denn durch die Dauer seiner Wirkung ist bezeugt, daß man nicht sonderlich begabt, fleißig, wohlanständig, edel und erhaben sein müsse, um in die heiligen Hallen der literarischen Unsterblichkeit einzudringen. Casanova hat bewiesen, daß man den amüsantesten Roman der Welt schreiben kann, ohne Dichter, das vollendetste Zeitbild, ohne Historiker zu sein, denn jene letzte Instanz fragt nie nach dem Wege, sondern nach der Wirkung, nicht nach der Sittlichkeit, sondern der Kraft. Jedes vollkommene Gefühl vermag produktiv zu werden, Schamlosigkeit ebenso wie Scham, Charakterlosigkeit wie Charakter, Bosheit wie Güte, Moral wie Unmoral: entscheidend für Verewigung wird niemals die Seelenform, sondern die Fülle eines Menschen. Nur Intensität verewigt, und je stärker, vitaler, einheitlicher und einmaliger ein Mensch lebt, um so vollkommener bringt er sich zur Erscheinung. Denn die Unsterblichkeit weiß nichts von Sittlich und Unsittlich, von Gut und Böse; sie mißt nur Werke und Stärke, sie fordert Einheit und nicht Reinheit der Menschen, Beispiel und Gestalt. Moral ist ihr nichts, Intensität alles.
Stendhal
Qu’ai-je été? Que suis-je? Je serais
bien embarrassé de le dire.
Stendhal, Henri Brulard
Lügenlust und Wahrheitsfreude
Am allerliebsten trüge ich eine Maske und änderte meinen Namen.
Brief
W enige haben mehr gelogen und leidenschaftlicher die Welt mystifiziert als Stendhal, wenige besser und profunder die Wahrheit gesagt.
Seine Maskenspiele und Irreführungen zählen nach Regimentern. Noch ehe man ein Buch aufschlägt, springt die erste schon vom Umschlag oder aus der Vorrede entgegen, denn niemals bekennt sich der Autor Henri Beyle schlicht und simpel zu seinem wirklichen Namen. Bald legt er sich eigenmächtig ein Adelsprädikat zu, bald verkleidet er sich als »César Bombet« oder fügt seinen Initialen H. B. ein geheimnisvolles A. A. bei, wohinter kein Teufel das höchst bescheidene »ancien auditeur«, zu gut deutsch: ehemaliger Staatsauditor, vermuten dürfte; nur im Pseudonym, in der Falschmeldung fühlt er sich sicher. Einmal maskiert er sich als österreichischer Pensionist, ein andermal als »ancien officier de cavalerie«, am liebsten mit dem seinen Landsleuten rätselhaften Namen Stendhal (nach einem kleinen preußischen Städtchen, das unsterblich wurde durch seine Karnevalslaune). Setzt er ein Datum, so kann man schwören, es stimmt nicht, erzählt er in der Vorrede zur »Chartreuse de Parme«, dieses Buch sei 1830, und zwar zwölfhundert Meilen weit von Paris, geschrieben, so hindert diese Eulenspiegelei nicht, daß er diesen Roman in Wirklichkeit 1839, und zwar mitten in Paris verfaßte. Auch in den Tatsächlichkeiten stolpern die Widersprüche munter durcheinander. In einer Selbstbiographie berichtet er pompös, er sei bei Wagram, Aspern und Eylau auf dem Schlachtfeld gewesen; kein Wort davon ist wahr, denn unwiderleglich beweist das Tagebuch: er saß zu ebenderselben Stunde noch behaglich in Paris. Einigemal redete er von einem langen und wichtigen Gespräch mit Napoleon, aber, Verhängnis! im nächsten Band liest man bedeutend glaubhafter das Geständnis: »Napoleon unterhielt sich nicht mit Narren meiner Art.« So muß man bei Stendhal jede einzelne Behauptung mit vorsichtigen Fingern anfassen und am mißtrauischsten seine Briefe, die er, angeblich aus Furcht vor der Polizei, prinzipiell falsch datiert und jedesmal mit einem andern Pseudonym unterzeichnet. Promeniert er gemächlich in Rom, so gibt er als Absendeort gewiß Orvieto an, schreibt er angeblich aus Besancon, so war er wirklich an jenem Tage in Grenoble, manchmal ist die Jahreszahl, meist der Monat irreführend eingesetzt und fast regelmäßig die Unterschrift. Aber das war nicht, wie manche meinen, bloße Furcht vor dem schwarzen Kabinett
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