Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wird seine Geliebte sein.
Die Postkutsche holpert weiter und zerrädert unbarmherzig diese vorzeitigen Träumereien. Kaum wirft der Knabe einen Blick auf die Landschaft, kaum spricht er zu seinen Begleitern ein Wort. Endlich hält der Postillion am Schlagbaum. Dröhnend rollen die Räder über die buckligen Straßen, in die engen, schmutzigen, überhohen Häuserschluchten hinein, dumpfig vom Geruch ranziger Speisen und schweißiger Armut. Erschreckt sieht der Enttäuschte sein Traumland an. Das also ist Paris, »ce n’est donc que cela?« Nichts als das ist Paris? Immer wieder wird er dies Wort später wiederholen: nach dem ersten Gefecht, beim Übergang der Armee über den St. Bernhard, in der ersten Liebesnacht. Immer wird diesem unmäßigen romantischen Verlangen die Wirklichkeit schal und flau erscheinen nach so überschwenglichen Träumen.
Sie laden ihn ab vor einem gleichgültigen Hotel in der Rue Saint-Dominique. Dort in einer Mansarde des fünften Stockes, eine Luke statt des Fensters, rechte Brutstätte zorniger Melancholie, haust der kleine Henri Beyle nun ein paar Wochen, ohne einen Blick in seine Mathematikbücher zu tun. Stundenlang trottet er auf den Straßen, sieht den Frauen nach: wie sind sie doch verführerisch in der neurömischen Mode der Nacktheit, wie entgegenkommend scherzen sie mit ihren Verehrern, wie wissen sie zu lachen, anlockend und leicht; aber er wagt sich an keine heran, der linkische dumme Junge im grünen Provinzüberrock, sehr wenig elegant und noch weniger verwegen. Nicht einmal zu den geldgefälligen Mädchen, die um die Öllaternen billig streichen, traut er sich hin und beneidet verbissen die kühneren Kameraden. Er hat keinen Freund, keine Gesellschaft, keine Arbeit: mürrisch träumt er in Erwartung romantischer Abenteuer durch die schmutzigen Straßen, so ganz in sich verloren, daß er manchmal in Gefahr gerät, von einem Wagen überrannt zu werden.
Endlich, niedergemürbt, ausgehungert nach Rede, Wärme und Vertraulichkeit, macht er Besuch bei seinen Verwandten, den reichen Darus. Sie sind nett zu ihm, laden ihn ein, ziehen ihn in ihr schönes Haus, aber – Erbsünde für Henri Beyle! – sie stammen aus der Provinz, und das verzeiht er ihnen nicht; sie leben bürgerlich, reich und behäbig, indes seine Börse fadenscheinig schlottert, und das erbittert ihn. Verdrossen, schweigsam, linkisch, ihr geheimer Feind, sitzt er mit ihnen bei Tisch, sein brennendes Verlangen nach Zärtlichkeit versteckend hinter muffiger und ironischer Bockigkeit: ein unangenehmer, undankbarer Patron, wie wahrscheinlich die alten Darus heimlich konstatieren. Spät abends kommt dann, abgehetzt, müde und verschlossen, aus dem Kriegsministerium der Heros der Familie, Pierre (später Graf) Daru, die rechte Hand des allmächtigen Bonaparte. Seiner innersten Neigung nach wäre der Kriegsmann lieber Kollege dieses kleinen Dichters (den er, weil er sich so schweigsam vermauert, für einen linkischen Dummkopf hält, und vor allem ungebildet wie einen Karpfen); denn er übersetzt in seinen Mußestunden Horaz, schreibt philosophische Abhandlungen und wird späterhin, wenn er einmal die Uniform ablegt, eine Geschichte Venedigs verfassen, jetzt aber lebt er wichtigeren Aufgaben im Schatten Bonapartes. Ein nimmermüdes Arbeitstier, verfaßt er Tag und Nacht im Geheimkabinett des Generalstabs Pläne, Berechnungen und Briefe, niemand weiß, zu welchem Zweck. Der kleine Henri haßt ihn gerade darum, weil er ihm nach vorwärts helfen will, denn er will nicht nach vorwärts, er will zu sich selbst.
Aber eines Tages ruft Pierre Daru den Faulenzer; er solle sofort mit in das Kriegsministerium, er habe eine Stelle für ihn. Unter der Karbatsche Darus muß nun der kleine feiste Henri Briefe, Briefe, Briefe, Referate und Berichte schreiben von zehn Uhr morgens bis ein Uhr nachts, daß ihm die Finger krachen. Noch weiß er nicht, wozu all diese wütige Schreiberei dient, aber bald wird die Welt es wissen. Ahnungslos schafft er mit an dem italienischen Feldzuge, der mit Marengo beginnt und mit einem Kaiserreich schließt; endlich erzählt der »Moniteur« das Geheimnis: der Krieg ist erklärt. Der kleine Henri Beyle atmet auf, gottlob! jetzt muß dieser Quälgeist Daru abrücken ins Hauptquartier, vorbei die öde Brieffuchserei. Er atmet auf; lieber Krieg als noch weiterhin dies Schrecklichste auf der Welt, als die beiden Dinge, die er am meisten haßt: Arbeit und Langeweile.
1800, Mai. Nachhut der italienischen
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