Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Enttäuschten. Die wirkliche Welt hat Stendhal in seinen Romanen mit dem gleichen Haß geschildert wie die idealisch imaginäre mit der schwelenden Glut seiner Leidenschaft, Meister in dieser und jener Sphäre, doppelweltig und heimisch in Geist und Gefühl.
Gerade das aber verleiht den Romanen Stendhals ihren besonderen Reiz und Rang, daß sie Spätwerke sind, jugendlich im Gefühl und wissend überlegen im Gedanklichen. Denn nur Distanz vermag Sinn und Schönheit jeder Leidenschaft schöpferisch zu erklären. »Un homme dans les transports de la passion ne distingue pas les nuances« – der Ergriffene selbst weiß im Augenblick der Ergriffenheit nicht um die Nuancen seiner Empfindung; er kann vielleicht lyrisch und hymnisch seine Ekstasen ins Uferlose rollen lassen, nie aber sie erklären und episch deuten. Die wahrhafte, die epische Analyse fordert immer Klarsichtigkeit, beruhigtes Blut, wachen Verstand, ein Schon-über-der-Leidenschaft-Sein. Stendhals Romane nun haben herrlich dieses gleichzeitig Innen und Außen; hier schildert gerade an der Grenze zwischen Aufstieg und Abklang der Männlichkeit ein Künstler wissend das Gefühl; er fühlt seine Leidenschaft nochmals ergriffen nach, aber er versteht sie schon und ist befähigt, sie von innen heraus zu dichten, von außen her zu begrenzen. Und dies allein bedeutet ja im Romane Stendhals Antrieb und tiefste Lust, das Innere, das Inwendige seiner neugespielten Leidenschaft zu betrachten – das äußerliche Geschehnis dagegen, das technisch Romanhafte gilt dem Künstler herzlich gering, und er schludert es ziemlich improvisatorisch herunter (er gesteht selbst, am Ende eines Kapitels nie gewußt zu haben, was im nächsten geschehen solle). Einzig vom innern Wellengang her haben seine Werke Kunstkraft und Bewegtheit. Sie sind am schönsten dort, wo man merkt, daß sie seelisch mitgefühlt sind, und am unvergleichlichsten, wo Stendhals eigene scheue und verdeckte Seele den Worten und Taten seiner Lieblinge einströmt, wo er seine Menschen leiden läßt an der eigenen Zwiefalt. Die Schilderung der Schlacht von Waterloo in der »Chartreuse de Parme« ist eine solche geniale Abbreviatur seiner ganzen italienischen Jugendjahre: wie er selbst nach Italien, so zieht sein Julien zu Napoleon, um auf den Schlachtfeldern das Heroische zu finden, aber Zug um Zug entreißt ihm die Wirklichkeit seine idealistischen Vorstellungen. Statt klirrender Reiterattacken erlebt er das sinnlose Durcheinander der modernen Schlacht, statt der Grande Armée findet er eine Rotte fluchender, zynischer Kriegsknechte, statt der Helden den Menschen, gleich mittelmäßig und dutzendhaft unter dem bunten wie dem gewöhnlichen Rock. Solche Augenblicke der Ernüchterung sind einzig meisterlich bei ihm belichtet: wie in unserm irdischen Weltraum die Ekstatik der Seele immer wieder an der exakten Wirklichkeit zuschanden wird, das hat kein Künstler zu vollendeterer Intensität gebracht. Nur, wo er seinen Menschen von seinem eigensten Erlebnis gibt, wird er Künstler über seinen Kunstverstand hinaus: »Quand il était sans émotion, il était sans esprit.«
Doch sonderbar: gerade dieses Geheimnis seines Mitfühlens will Stendhal, der Romanschriftsteller, um jeden Preis verbergen. Er schämt sich, von einem zufälligen und am Ende ironischen Leser erraten zu lassen, wieviel seiner Seele er nackt macht in diesen imaginären Juliens, Luciens und Fabrizios. Darum stellt Stendhal sich in seinen epischen Werken absichtlich steinkalt, er frostet absichtlich seinen Stil: »Je fais tous les efforts, pour être sec.« Lieber hart scheinen als larmoyant, lieber kunstlos als pathetisch, lieber Logik als Lyrik! So hat er das inzwischen bis zum Erbrechen durchgekaute Wort in die Welt gesetzt, er lese jeden Morgen vor der Arbeit das Bürgerliche Gesetzbuch, um sich gewaltsam an den trockenen und sachlichen Stil zu gewöhnen. Aber Stendhal meinte damit beileibe nicht Trockenheit als sein Ideal: in Wahrheit suchte er mit seiner »amour exagéré de la logique«, mit seiner Klarheitsleidenschaft einzig den unbemerkbaren Stil, der hinter der Darstellung gleichsam verdunstet: »Le style doit être comme un vernis transparent: il ne doit pas altérer les couleurs ou les faits et pensées, sur lesquels il est placé.« Das Wort soll sich nicht lyrisch mit kunstvollen Koloraturen, den »fiorituri« der italienischen Oper, vordrängen, im Gegenteil, es soll hinter dem Gegenständlichen verschwinden, es soll wie der
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