Stefan Zweig - Gesammelte Werke
spricht mit seinem Geliebten.« Ward je in solcher Laun’ ein Weib gefreit? muß man da mit Shakespeare fragen; hat je vor Stendhal ein Schriftsteller gewagt, derart kaltsinnig in einem Verführungsaugenblick Menschen sich kontrollieren und selbst berechnen zu lassen, und Menschen dazu, die wie alle Stendhalschen Charaktere durchaus keine Fischnaturen sind? Aber hier sind wir schon der innersten Technik seiner psychologischen Darstellungskunst nahe, die selbst die Hitze noch in ihre Wärmegrade zerlegt, das Gefühl in seine Impulse spaltet. Nie betrachtet Stendhal eine Leidenschaft en bloc, sondern immer in ihren Einzelheiten, er verfolgt ihre Kristallisation durch die Lupe, ja sogar durch die Zeitlupe; was im realen Raum als einzige stoßhafte, spasmische Bewegung abrollt, zerteilt sein genialer analytischer Geist in infinitesimal viele Zeitmoleküle, er verlangsamt vor unserem Blick künstlich die psychische Bewegung, um sie uns geistig einsichtiger zu machen. Die Romanhandlung Stendhals spielt also (dies ihre Neuheit!) ausschließlich innerhalb der psychischen und nicht der irdischen Zeit. Mit ihm wendet sich die epische Kunst zum erstenmal (und dies eine Entwicklung vorausahnend) der Erhellung der unbewußten Funktionshandlungen zu; »Le Rouge et le Noir« eröffnet den »roman expérimental«, der später die Seelenwissenschaft der Dichtung endgültig verbrüdert. Manche Passagen in Stendhals Romanen erinnern tatsächlich an die Nüchternheit eines Laboratoriums oder die Kühle eines Schulraums; aber nichtsdestominder ist der passionierte Kunstfuror bei Stendhal genauso schöpferisch wie bei Balzac, nur ins Logische verschlagen, in eine fanatische Klarheitssucht, in einen Willen zum Hellsehertum der Seele. Seine Weltgestaltung ist ihm nur Umweg zur Seelenerfassung, im ganzen rauschenden Weltall fesselt seine hitzige Neugier nichts als die Menschheit und in der Menschheit immer wieder nur der einzige, der ihm unergründliche Mensch, der Mikrokosmos Stendhal. Diesen einen zu ergründen, ist er Dichter geworden, und Gestalter nur, um ihn zu gestalten. Obwohl durch Genie einer der vollkommensten Künstler, hat Stendhal persönlich nie der Kunst gedient; er bedient sich ihrer bloß als des feinsten und geistigsten Instruments, um die Schwingung der Seele zu messen und in Musik zu verwandeln. Nie war sie ihm Ziel, immer nur Weg zu seinem einzigen und ewigen Ziele: zur Entdeckung des Ichs, zur Lust seiner Selbsterkennung.
De Voluptate Psychologica
Ma véritable passion est celle de connaître et d’éprouver. Elle n’a jamais été satisfaite.
E in braver Bürger nähert sich einmal in einer Gesellschaft Stendhal und fragt höflich-gesellig den fremden Herrn nach seinem Berufe. Sofort huscht ein maliziöses Lächeln um den Zynikermund, die kleinen Augen funkeln übermütig-frech, und mit gespielter Bescheidenheit antwortet er: »Je suis observateur du cœur humain«, Beobachter des menschlichen Herzens. Eine Ironie gewiß, aus Freude am Bluff einem staunenden Bourgeois zugeblitzt, aber doch mengt sich dieser spaßenden Versteckenspielerei ein gut Stück Aufrichtigkeit bei, denn in Wahrheit hat Stendhal ein ganzes Leben lang nichts so zielhaft und planmäßig getrieben wie die Beobachtung seelischer Tatsachen.
Stendhal hat wie wenige sie gekannt, die magische Psychologenlust: »voluptas psychologica« und beinahe lasterhaft dieser Genießerleidenschaft des Geistmenschen gefrönt; aber wie beredt ist sein feiner Rausch von den Geheimnissen des Herzens, wie leicht, wie herzaufhebend seine Kunst der Psychologie! Aus klugen Nerven nur, aus feinhörigen, klarsichtigen Sinnen schiebt hier Neugier ihre Fühler vor und saugt mit einer subtilen Lüsternheit das süße geistige Mark aus den lebendigen Dingen. Nichts braucht dieser elastische Intellekt griffig anzufassen, nie preßt er gewaltsam Phänomene zusammen und bricht ihnen die Knochen, um sie einzurenken in das Prokrustesbett eines Systems; Stendhals Analysen haben das Überraschende und Beglückende jäher Entdeckungen, das Frische und Erfreuliche zufälliger Begegnungen. Seine männische, edelmännische Beutelust ist viel zu stolz, um Erkenntnissen keuchend und schwitzend nachzujagen, sie mit Koppel und Meuten von Argumenten zu Tode zu hetzen; er haßt das unappetitliche Handwerk, die Fakten umständlich zu entweiden und in ihren Eingeweiden als Haruspex zu wühlen: niemals bedarf seine Feinempfindlichkeit, sein Fingerspitzengefühl für ästhetische Werte
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