Stefan Zweig - Gesammelte Werke
brutalen gierigen Griffs. Das Arom der Dinge, die schwebende Aura ihrer Essenz, ihre ätherleichte geistige Entstrahlung verrät diesem Gaumengenie schon vollkommen Sinn und Geheimnis ihrer innern Substanz, aus winzigster Regung erkennt er ein Gefühl, aus der Anekdote die Geschichte, aus dem Aphorisma einen Menschen; ihm genügt schon das verschwindendste, das kaum faßbare Detail, das »raccourci«, eine herzblattgroße Wahrnehmung, und er weiß, daß eben diese minimalen Beobachtungen, die »petits faits vrais«, in der Psychologie die entscheidenden sind. »II n’y a d’originalité et de vérité que dans les details«, sagt schon sein Bankier Leuwen, und Stendhal selbst rühmt stolz die Methode eines Zeitalters, »das die Details liebt, und mit Recht«, vorahnend schon das nächste kommende Jahrhundert, das nicht mehr mit leeren und schweren, mit weitmaschigen Hypothesen Psychologie treiben, sondern aus den molekularen Wahrheiten der Zelle und des Bazillus sich den Körper, aus minuziöser Belauschung, aus den Oszillationen und Nervenschwingungen sich seelische Intensitäten errechnen wird. Zur gleichen Stunde, da die Nachfahren Kants, da Schelling, Hegel e tutti quanti auf ihren Kathedern noch taschenspielerisch das ganze Weltall unter ihren Professorenhut zaubern, weiß dieser Einsame schon, daß die Zeit der hochtürmigen Philosophen-Dreadnoughts, der Gigantensysteme, endgültig abgetan ist und nur die Torpedos der unterseeboothaft anschleichenden kleinen Beobachtungen den Ozean des Geistes beherrschen. Aber wie einsam treibt er diese kluge Erratekunst inmitten der einseitigen Fachleute und abseitigen Dichter! Wie steht er allein, wie geht er ihnen allen voraus, den biedern und schulkräftigen Seelenforschern von damals, wie läuft er ihnen voraus dadurch, daß er keine mit Bildung vollgepackten Hypothesen am Rücken mitschleppt – »je ne blâme ni approuve, j’observe« –, Erkenntnis treibend als Spiel, als Sport, nur sich selber zur wissenden Freude! Wie sein Geistbruder Novalis, gleich ihm voran aller Philosophie durch dichterischen Sinn, liebt er nur den »Blütenstaub« der Erkenntnis, diese zufällig hergewehten, aber vom innersten Sinn alles Organischen durchdrungenen Pollen, in denen keimhaft die wurzelausgreifenden weiten Systeme hypothetisch enthalten sind. Immer beschränkt sich Stendhals Beobachtung auf die winzigen, nur mikroskopisch wahrnehmbaren Veränderungen, auf die knappe Sekunde der ersten Kristallisation des Gefühls. Nur dort spürt er lebensnah jene Brautstunde von Leib und Seele, die großspurig die Scholastiker das Welträtsel nennen: gerade im Minimum von Wahrnehmung wittert er das Maximum von Wahrheit. So scheint seine Psychologie vorerst Denkfiligran, eine Kleinkunst, ein Spielen mit Subtilitäten, aber er hat die unerschütterliche (und richtige) Überzeugung, daß die winzigste exakte Wahrnehmung bedeutsamere Einsicht schenkt in die Triebwelt der Gefühle als jede Theorie. »Le cœur se fait moins sentir que comprendre«; die Wissenschaft von der Seele hat keinen andern sichern Zugang ins Dunkel als diese zufällig abgesprengten Wahrnehmungen. »Li n’y a de sûrement vrai que les sensations.« So genügt es, »ein Leben lang aufmerksam fünf bis sechs Ideen zu betrachten«, und schon deuten sich – nie aber diktatorisch, sondern nur individuell – Gesetze an, eine geistige Ordnung, die zu begreifen oder bloß zu erahnen Lust und Leidenschaft jeder echten Psychologie bedeutet.
Solcher kleiner hilfreicher Beobachtungen hat Stendhal unzählige gemacht, knappe und einmalige Entdeckungen, von denen manche seitdem axiomatisch, ja grundlegend geworden sind für jede künstlerische Seelenauslegung. Aber Stendhal wertet diese seine Funde selbst niemals aus, er wirft die Ideen, die ihm zublitzen, lässig hin auf das Papier, ohne sie zu ordnen oder gar systematisch zu schichten: in seinen Briefen, seinen Tagebüchern und Romanen kann man diese fruchtkräftigen Körner verstreut finden, dem Zufall des Gefundenwerdens sorglos anvertraut. Sein ganzes psychologisches Werk besteht in summa aus zehn bis zwanzig Dutzend Sentenzen und Romanpartien: selten nimmt er sich die Mühe, nur ein paar zusammenzubündeln, niemals aber vermörtelt er sie zu einer wirklichen Ordnung, zu einer geschlossenen Theorie. Selbst die einzige Monographie einer Leidenschaft, die er zwischen zwei Buchdeckeln uns gegeben, jene über die Liebe, ist eine Olla podrida von Fragmenten, Sentenzen und Anekdoten:
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