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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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lockert das düstere Gewölk, erst im Herbstabendlicht fällt ein vergütigter Strahl von Schönheit über diese tragische Landschaft.
    In niederem, dumpfem Gelaß hat der ewig wandernde Genius bei Tolstoi Herberge genommen, in einer russischen Jedermanns-Physiognomie, hinter der man alles vermuten möchte, nur den Geistmenschen, den Dichter, den Gestaltenden nicht. Als Knabe, als Jüngling, als Mann, selbst als Greis, immer wirkt Tolstoi bloß wie irgendeiner von vielen. Er paßt in jeden Rock, unter jede Mütze: mit solch einem anonymen allrussischen Antlitz kann man ebenso einem Ministertisch präsidieren wie betrunken in einer Vagabundenkneipe spielen, Weißbrot auf dem Markt kaufen oder im seidenen Meßkleid des Metropoliten das Kreuz über die kniende Menge erheben: nirgends, in keinem Berufe, in keinem Gewande, an keinem russischen Orte fiele dies Antlitz als ein unverkennbares auf. Als Student sieht er aus wie zwölf auf ein Dutzend, als Offizier wie irgendein Säbelträger, als Landedelmann wie irgendein Krautjunker. Fährt er im Wagen neben dem weißbärtigen Diener, so muß man schon sehr gründlich die Photographie abfragen, welcher der beiden Alten am Kutschbock eigentlich der Graf ist und welcher der Kutscher; zeigt ihn ein Bild im Gespräch mit den Bauern, und wüßte man’s nicht, keiner würde erraten, daß dieser Lew inmitten des Dorfklüngels ein Graf ist und sonst noch millionenmal mehr als all die Grigors und Iwans und Iljas und Pjotrs um ihn herum. Als wäre dieser eine alle zugleich, als hätte diesmal der Genius nicht die Maske eines besonderen Menschen genommen, sondern sich verkleidet als Volk, so gänzlich anonym, so allrussisch wirkt sein Gesicht. Gerade, weil er ganz Rußland enthält, trägt Tolstoi kein eigenes, sondern nur das russische Antlitz.
    Darum enttäuscht zunächst sein Anblick fast alle, die ihn erstmalig sehen. Meilenweit sind sie mit der Bahn und von Tula dann im Wagen herübergekommen, nun harren sie im Empfangsraum ehrfürchtig des Meisters; jeder erwartet innerlich überwältigende Gegenwart, und die Seele formt ihn voraus als mächtigen, majestätischen Mann mit flutendem Gottvaterbart, hochragend und stolz, Gigant und Genie in einer Gestalt. Schon drückt Schauer der Erwartung jedem die Schultern herab, schon duckt sich der Blick unwillkürlich vor der Riesengestalt des Patriarchen, zu der er im nächsten Augenblick aufschauen soll. Da öffnet sich endlich die Türe, und siehe: ein kleines untersetztes Männchen tritt so behende, daß der Bart weht, mit fast laufenden Schritten herein, hält inne und steht freundlich lächelnd vor dem überraschten Gast. Munter, mit schneller Stimme plaudert er ihn an, aus leichtem Gelenk bietet er jedem die Hand. Und sie nehmen die Hand, im tiefsten Herzen erschreckt: Wie? dieses freundlich-gemütliche Männchen, dieses »flinke Väterchen im Schnee«, dies wäre wirklich Leo Nikolajewitsch Tolstoi? Der Vorschauer von Majestät verfliegt; ein wenig ermutigt wagt sich die Neugier empor an sein Gesicht.
    Aber plötzlich stockt den Aufschauenden das Blut. Wie ein Panther ist hinter den buschigen Dschungeln der Brauen ein grauer Blick auf sie losgesprungen, jener unerhörte Blick Tolstois, den kein gemaltes Bild verrät und von dem einzig doch jeder spricht, der jemals dem Gewaltigen ins Antlitz gesehen. Ein Messerstoß, stahlhart und funkelnd, nagelt dieser Blick jeden Menschen fest. Unmöglich, sich noch zu rühren, sich ihm zu entwinden, ein jeder muß hypnotisch gefesselt dulden, daß dieser Blick ihn bis ganz tiefinnen durchdringt. Gegen Tolstois ersten Blickstoß gibt es keine Gegenwehr: wie ein Schuß durchschlägt er alle Panzer der Verstellung, wie Diamant zerschneidet er alle Spiegel. Niemand – Turgenjew, Gorki und hundert andere haben es bezeugt – kann lügen vor diesem penetrant durchbohrenden Blicke Tolstois.
    Aber nur eine Sekunde stößt dieses Auge so hart und prüfend zu. Dann taut die Iris wieder auf, glänzt grau, flirrt von verhaltenem Lächeln oder gütigt sich zu weichem, wohltuendem Glanz. Wie Wolkenschatten über Wasser spielen alle Verwandlungen des Gefühls über diese magischen und ruhelosen Pupillen ständig dahin. Zorn kann sie aufsprühen lassen in einem einzigen kalten Blitz, Unmut sie frosten zu eisklarem Kristall, Güte sie warm übersonnen, Leidenschaft sie entbrennen. Sie können lächeln von innerem Licht, diese geheimnisvollen Sterne, ohne daß der harte Mund sich rührte, und sie können, wenn

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