Stefan Zweig - Gesammelte Werke
alterslos wie Natur erscheint Tolstois als Kunst gar nicht mehr fühlbare Prosa inmitten unserer Zeit und zugleich jenseits aller Zeiten. Nirgends trägt sie die erkennbare Präge bestimmter Epoche; kämen einzelne seiner Novellen ohne Namen ihres Bildners einem erstmalig zur Hand, niemand wagte zu bestimmen, welches Jahrzehnt, ja Jahrhundert sie geschaffen, derart bedeuten sie absolutes zeitloses Erzählen. Die Volkslegenden von den »Drei Greisen« oder »Wieviel Erde braucht der Mensch« könnten gleichzeitig mit Ruth und Hiob, ein Millennium vor Erfindung des Druckes und im Anfang der Schrift erfabelt sein, Iwan Iljitschs Todeskampf, »Polikei« oder »Leinwandmesser« gehören ebenso dem neunzehnten wie dem zwanzigsten und dreißigsten Jahrhundert an, denn nicht die zeitgenössische Seele findet hier zeitseelischen Ausdruck, wie bei Stendhal, Rousseau, Dostojewski, sondern die primitive, allzeitige, die keiner Verwandlung unterliegende – das irdische Pneuma, Urfühlen, Urangst, Ureinsamkeit des Menschen vor der Unendlichkeit. Und genau wie innerhalb des absoluten Raumes der Menschheit, so hebt innerhalb des relativen der Schaffensdauer seine gleichmäßige Meisterschaft die Zeit auf. Tolstoi hat seine erzählende Kunst nie erlernen müssen und nie verlernt, sein naturhaftes Genie kennt weder Fortschritt noch Rückschritt. Die Landschaftsschilderungen des Vierundzwanzigjährigen in den »Kosaken« und jener strahlend unvergeßliche Ostermorgen in der »Auferstehung«, sechzig Jahre, ein rauschendes Menschenalter später geschrieben, atmen ein und dieselbe unverwelkliche unmittelbare, mit allen Nerven fühlsame Frische der Natur, dieselbe plastische, mit den Fingern faßbare Anschaulichkeit der anorganisch-organischen Welt. In Tolstois Kunst gibt es also weder Lernen noch Verlernen, weder Abstieg noch Übergang, sondern ein Halbjahrhundert lang bewährt sie gleiche sachliche Vollendung; wie Felsen vor Gott, ernst und dauerhaft, starr und unabänderlich in jeder Linie, so stehen seine Werke innerhalb der weichen und veränderlichen Zeit.
Aber gerade dank dieser ebenmäßigen und darum gar nicht persönlich-betonten Vollendung spürt man des Künstlers mitatmendes Dabeisein in seinem Kunstwerk kaum: nicht als der Erdichter einer Phantasiewelt erscheint Tolstoi, sondern bloß als Berichter unmittelbarer Wirklichkeit. Tatsächlich, man hat manchmal eine Art Scheu, Tolstoi Dichter zu nennen, poète, denn Dichter, dies schwingende Wort, meint unwillkürlich ein Andersgeartetsein, eine gesteigerte Form des Menschlichen, ein geheimnisvoll mit Mythus und Magie Verbundensein. Tolstoi dagegen ist keineswegs ein »höherer« Typus Mensch, sondern ein vollkommen diesseitiger, kein überirdischer, sondern Inbegriff aller Irdischkeit. Nirgends überschreitet er die enge Zone des Faßlichen, Sinnenklaren, Handgreiflichen; innerhalb dieses Maßes aber, welche Vollkommenheit! Er hat keine andern, keine musischen und magischen Eigenschaften über die gewöhnlichen hinaus, diese aber in unerhörter Verstärktheit: er funktioniert nur seelisch intensiver, er sieht, hört, riecht, empfindet deutlicher, klarer, weitreichender, wissender als der normale Mensch, er erinnert sich länger und logischer, er denkt rascher, kombinatorischer und präziser, kurz, jede menschliche Eigenschaft bildet sich in dem einzig vollkommenen Apparat seines Organismus mit verhundertfachter Intensität als in einer gewöhnlichen Natur heraus. Aber niemals überschwebt Tolstoi – (und deshalb wagen so wenige zu ihm das Wort: »Genie«, das bei Dostojewski selbstverständliche) – die Schranke der Normalität, niemals erscheint Tolstois Dichten vom Dämon, vom Unbegreiflichen beseelt. Wie vermag diese erdgebundene Phantasie jenseits »des sachlichen Gedächtnisses« etwas zu erfinden, was außerhalb des Gemeinmenschlichen nicht schon vorhanden wäre, immer wird darum seine Kunst fachlich, sachlich, deutlich; menschlich verbleiben, eine Taglichtkunst, eine potenzierte Wirklichkeit; darum meint man, wenn er erzählt, nicht einen Künstler, sondern die Dinge selbst sprechen zu hören. Menschen und Tiere treten aus seinem Werk wie aus ihrer eigenen warmen Wohnstatt; man fühlt, kein passionierter Dichter drängt hinter ihnen, der sie hetzt und hitzt, etwa wie Dostojewski seine Gestalten immer mit der Fieberpeitsche knutet, daß sie heiß und schreiend in die Arena ihrer Leidenschaften stürzen. Wenn Tolstoi erzählt, hört man seinen Atem nicht. Er erzählt,
Weitere Kostenlose Bücher