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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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wie Bergbauern eine Höhe emporklimmen: langsam, gleichmäßig, stufenhaft, Schritt für Schritt, ohne Sprünge, ohne Ungeduld, ohne Ermüdung, ohne Schwäche; daher auch unser unerhörtes Beruhigtsein des Mit-ihm-Gehens. Man schwankt, man zweifelt, man ermüdet nicht, man steigt Schritt für Schritt an seiner ehernen Hand die großen Bergblöcke seiner Epen empor, und Stufe um Stufe wächst mit erweitertem Horizonte der Überblick. Langsam nur entrollen sich die Geschehnisse, erst allmählich erhellt sich die Fernsicht, aber all dies geschieht mit der unausbleiblichen uhrhaften Gewißheit, die bei einem morgendlichen Sonnenaufgang Zoll um Zoll aus der Tiefe eine Landschaft emporleuchten läßt. Tolstoi erzählt ganz unbetont einfach, wie jene Epiker der ersten Zeiten, die Rhapsoden und Psalmisten und Chronisten ihre Mythen erzählten, als noch die Ungeduld nicht unter den Menschen war, die Natur noch nicht getrennt von ihren Geschöpfen, keine humanistische Rangordnung Mensch und Tier, Pflanzen und Steine hochmütig unterschied und der Dichter dem Kleinsten und Gewaltigsten noch gleiche Ehrfurcht und Göttlichkeit gab. Für ihn besteht kein Unterschied zwischen dem heulenden Zucken eines verreckenden Hundes und dem Tode eines ordenbeladenen Generals oder dem Hinfall eines vom Wind zerknickten, absterbenden Baumes. Schönes und Häßliches, Tierisches und Pflanzliches, Reines und Unreines, Magisches und Menschliches, all dies sieht er mit dem gleichen malerischen und doch durchseelenden Blick – man spielte mit dem Wort, wollte man unterscheiden, ob er den Menschen vernatürlicht oder die Natur vermenschlicht. Keine Sphäre innerhalb des Irdischen bleibt ihm darum verschlossen, sein Gefühl gleitet aus dem rosigen Leib eines Säuglings in das schlotternde Fell eines abgetriebenen Stallpferdes und aus dem Kattunrock eines Dorfweibs in die Uniform des erlauchtesten Feldherrn, in jedem Leib, in jeder Seele gleich wissend und bluthaft daheim mit einer unbegreiflichen Sicherheit allergeheimster, fleischhaftester Wahrnehmung. Oft haben Frauen erschrocken gefragt, wie dieser Mann ihre verdecktesten und nicht mitzuerlebenden Körpergefühle gleichsam unter der Haut herausschildern konnte, das drückende Ziehen in der Brust von quellender Milch bei Müttern oder die wohltuend rieselnde Kälte über den zum erstenmal auf dem Ball entblößten Armen eines jungen Mädchens. Und wenn den Tieren eine Stimme gegeben wäre, ihr Staunen ins Wort zu treiben, so würden sie fragen, dank welcher unheimlichen Intuition er die quälende Lust eines Jagdhundes beim nahen Geruch der Wildschnepfe oder die nur in Bewegung gekleideten Instinktgedanken eines Vollbluthengstes am Start erraten konnte – man lese die Schilderung jener Jagd in »Anna Karenina« –, Detailwahrnehmungen von einer visionären Präzision, die alle Experimente der Zoologen und Entomologen von Buffon bis Fabre schildernd vorausnehmen. Tolstois Exaktheit in der Beobachtung ist an keine Abstufungen innerhalb des Irdischen gebunden: er hat keine Vorliebe in seiner Liebe. Napoleon ist seinem unbestechlichen Blick nicht mehr Mensch als der letzte seiner Soldaten und dieser letzte wiederum nicht wichtiger und wesenhafter als der Hund, der ihm nachläuft, und der Stein wiederum, den dieser mit den Pfoten tritt. Alles im Kreise des Irdischen, Mensch und Masse, Pflanzen und Tiere, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Feldherrn und Bauern strömen als sinnliche Schwingung mit derselben kristallenen Lichtgleichmäßigkeit in seine Organe ein, um ihnen ebenso ordnungshaft zu entströmen. Das gibt seiner Kunst etwas vom Ebenmaß der allzeit wahrhaftigen Natur und seiner Epik jenen meerhaft monotonen und doch großartigen Rhythmus, der immer wieder den Namen Homers beschwört.
    Wer so viel und so vollkommen sieht, braucht nichts zu erfinden, wer dermaßen dichterisch beobachtet, nichts zu erdichten. Absoluter Wachkünstler im Gegensatz zu Dostojewski, dem Visionär, braucht er die Schwelle des Wirklichen nirgends zu überschreiten, um an das Außerordentliche zu gelangen; er holt nicht Geschehnisse aus einem überweltlichen Phantasieraum heran, sondern gräbt nur in gemeine Erde, in den gewöhnlichen Menschen seine kühnen und verwegenen Stollen hinab. Und im Menschlichen wiederum kann Tolstoi sich’s erübrigen, abwegige und pathologische Naturen zu betrachten oder gar über sie hinaus wie Shakespeare und Dostojewski geheimnisvoll neue Zwischenstufen zwischen Gott und Tier,

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