Stefan Zweig - Gesammelte Werke
höre es, Apoll! – befriedigen, in Wahrheit bleiben doch sie seine Meisterwerke und die zielbewußten moralischen seine brüchigen. Denn je mehr sich Tolstoi seinem »sittlichen Despotismus« hingibt, je weiter er sich von dem Urelement seines Genies, der Sinnenwahrhaftigkeit, entfernt, um so ungleichmäßiger wird er als Künstler: wie Antäus hat er alle Kraft von der Erde. Wo Tolstoi ins Sinnliche sieht mit seinen herrlichen diamantscharfen Augen, bleibt er bis ins letzte Greisenalter genial, wo er ins Wolkige, ins Metaphysische tastet, mindert sich in erschreckender Weise sein Maß. Und es ist beinahe erschütternd, zu sehen, mit welcher Gewaltsamkeit ein Künstler durchaus ins Geistige schweben und fliegen will, dem es vom Schicksal einzig bestimmt war, mit schwerem Schritt auf unserer harten Erde zu gehen, sie zu ackern und zu pflügen, sie zu erkennen und zu schildern wie kein anderer unserer Gegenwart.
Tragischer Zwiespalt dies, urewig wiederholt in allen Werken und Zeiten: was das Kunstwerk erhöhen sollte, die überzeugte und überzeugen wollende Gesinnung, vermindert zumeist den Künstler. Die wahre Kunst ist egoistisch, sie will nichts als sich selbst und ihre Vollendung. Nur an sein Werk darf der reine Künstler denken, nicht an die Menschheit, der er es zubestimmt. So ist auch Tolstoi so lange am größten als Künstler, als er ungerührten, unbestechlichen Auges die Sinnenwelt gestaltet. Sobald er der Mitleidige wird, helfen will, verbessern, führen und belehren durch sein Werk, verliert seine Kunst an ergreifender Kraft, und er selbst wird durch sein Schicksal erschütterndere Gestalt als all seine Gestalten.
Selbstdarstellung
Unser Leben erkennen, heißt sich selbst erkennen.
An Russanow, 1903
U nerbittlich ist dieser strenge Blick gegen die Welt gerichtet, unerbittlich streng auch gegen sich selbst. Tolstois Natur duldet keine Undeutlichkeit, kein Vernebeltes und Verschattetes weder im Innen noch Außen der irdischen Welt: so kann, der als Künstler gewöhnt ist, den genauesten Umriß in der Linie eines Baumes oder in der zuckenden Bewegung eines aufschreckenden Hundes zwanghaft präzise zu sehen, auch sich selbst nie ertragen als ein dumpf und undeutlich Gemengtes. Unwiderstehlich darum, unablässig und von frühester Zeit an wendet sich sein elementarer Forschungsdrang gegen sich selbst: »Ich will mich durch und durch kennenlernen«, schreibt der Neunzehnjährige in sein Tagebuch. Ein wahrheitsfanatischer Mensch wie Tolstoi kann gar nicht anders als ein leidenschaftlicher Autobiograph sein.
Aber Selbstdarstellung entspannt sich im Gegensatz zur Weltdarstellung niemals vollkommen durch einmalige Leistung im Kunstwerk. Das eigene Ich läßt sich durch Verbildlichung niemals vollkommen abspalten, weil einmalige Betrachtung das ständig wandelhafte Ich nicht erledigt. Darum wiederholen die großen Selbstdarsteller ihr Eigenbildnis das ganze Leben entlang. Alle beginnen sie, Dürer, Rembrandt, Tizian, ihre frühesten Jugendwerke vor dem Spiegel und lassen sie erst mit sinkender Hand, weil sie an der eigenen physischen Gestalt ebenso das Beharrend-Beständige wie das Fließende der Verwandlung reizt. Genauso kommt der große Wirklichkeitszeichner Tolstoi mit seiner Selbstdarstellung niemals zu Rande. Kaum hat er sich dargetan in, wie er meint, definitiver Gestalt, sei es als Nechljudow, als Saryzin oder Pierre oder Lewin, so erkennt er im beendigten Werke das eigene Antlitz nicht mehr; um die erneute Form zu fassen, muß er noch einmal beginnen. Aber ebenso unermüdlich, wie Tolstoi, der Künstler, nach seinem Seelenschatten hascht, flieht sein Selbst weiter in seelischer Flucht, immer neue und unvollendbare Aufgegebenheit, die zu bezwingen der Willensriese sich immer neu angelockt fühlt. Dadurch entsteht kein Werk innerhalb dieser sechzig Jahre, das nicht in irgendeiner Gestalt Tolstois eigenen Umriß enthielte, und nicht eines, das allein für sich die Weite dieses Mannes umfaßte; erst als Summe ergeben alle seine Romane, Novellen, Tagebücher und Briefe seine Selbstdarstellung, dann aber auch das vielfältigste, wachsamste und kontinuierlichste Eigenbildnis, das in unserem Jahrhundert ein Mensch hinterlassen hat.
Denn niemals kann dieser Nichterfinder, er, der immer nur Erlebtes und Wahrgenommenes wiederzugeben befähigt ist, sich selbst, den Lebenden, den Wahrnehmenden aus dem Blickfeld ausschalten. Unablässig, zwanghaft, oft gegen seinen Willen und immer jenseits seines
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