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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Ariels und Aljoschas, Kalibans und Karamasows zu erzaubern. Schon der alltäglichste, der banalste Bauernbursche wird in jener nur von ihm erreichten Tiefe Geheimnis: ihm genügt als Einstieg in die profundesten Schächte seiner Seelenreiche schon ein simpler Bauer, ein Soldat, ein Trunkenbold, ein Hund, ein Pferd, ein Irgendetwas, gewissermaßen das billigst vorkömmliche Menschenmaterial, keine kostbaren subtilen Seelen: diesen vollkommen durchschnittlichen Gestalten aber zwingt er ein seelisch Unerhörtes ab, und zwar nicht, indem er sie verschönt, sondern indem er sie vertieft. Sein Kunstwerk spricht nur diese eine Sprache der Wirklichkeit – dies seine Grenze –, sie aber vollkommener, als vor ihm ein Dichter sie gesprochen dies seine Größe. Für Tolstoi sind Schönheit und Wahrheit ein und dasselbe.
    So ist er – um es nochmals und deutlicher zu sagen – der sehendste aller Künstler, aber kein Seher, der vollendetste aller Wirklichkeitsberichter, aber kein erfinderischer Dichter. Nicht durch die Nerven wie Dostojewski, nicht durch Visionen wie Hölderlin oder Shelley holt sich Tolstoi seine raffiniertesten Wahrnehmungen heran, sondern einzig durch die koordinierte Aktion seiner radial wie das Licht ausschwingenden Sinne. Wie Bienen schwärmen sie ständig aus, ihm immer neuen farbigen Staub der Beobachtung zu bringen, der dann, in leidenschaftlicher Sachlichkeit gegoren, sich zum goldflüssigen Seim des Kunstwerks formt. Nur sie, seine wunderbar gehorsamen, hellsichtigen, hellhörigen, starknervigen und doch feintastenden, seine auswägenden, überempfindlichen und fast tierisch witternden Sinne bringen ihm von jeder Erscheinung jenes beispiellose Material an sinnlicher Substanz zu, das dann die geheimnisvolle Chemie dieses flügellosen Künstlers genauso langsam in Seele umsetzt, wie ein Chemiker ätherische Stoffe aus Pflanzen und Blüten geduldig destilliert. Immer resultiert die ungeheure Einfachheit des Erzählers Tolstoi aus einer ungeheuren und gar nicht nachrechenbaren Vielfalt von Myriaden Einzelbeobachtungen. Wie ein Arzt beginnt er zunächst mit einer Generalaufnahme, einer Inventur aller körperlichen Eigenheiten bei dem einzelnen, ehe er den epischen Destillationsprozeß auf die ganze Welt seiner Romane anwendet. »Sie können sich gar nicht vorstellen«, schreibt er einmal einem Freunde, »wie schwer mir diese vorbereitende Arbeit fällt, die Notwendigkeit, erst einmal das Feld durchzupflügen, auf dem ich dann gesonnen bin zu säen. Es ist furchtbar schwer, zu denken und immer wieder zu überdenken, was sich alles ereignen kann mit allen erst werdenden Personen des in Aussicht genommenen, sehr umfangreichen Werkes. Es ist furchtbar schwer, die Möglichkeiten so vieler Aktionen zu bedenken, um aus diesen dann ein Millionstel zu wählen.« Und da dieser mehr mechanische als visionäre Prozeß bei jeder einzelnen Person sich wiederholt, berechne man, wie viele Staubkörner in dieser Geduldmühle zerrieben und neu gebunden werden müssen. Jede Einzelheit, jeder Mensch resultiert aus tausend Einzelheiten, jede Einzelheit aus weiteren Infinitesimalen, denn mit der kalten und unbeirrbaren Gerechtigkeit einer Vergrößerungslinse durchforscht er jedes charakterologische Symptom. Im Holbein-Stil, Strich am Strich, wird etwa ein Mund gestaltet, die Oberlippe von der Unterlippe abgegrenzt mit all ihren individuellen Anomalien, jedes Zucken der Winkel bei gewissen seelischen Affekten genau notiert, die Art des Lächelns wie der Zornfalte zeichnerisch gemessen. Dann erst wird die Farbe dieser Lippe langsam eingemalt, ihre Fleischigkeit oder Feste mit unsichtbarem Finger angefühlt, das kleine Dunkel von Schnurrbart, der sie umschattet, wissend eingestichelt – dies ergibt jedoch erst die Rohform, die bloß fleischliche der Lippengestaltung, und sie wird ergänzt nun durch ihre charakteristische Funktion, durch die Rhythmik des Sprechens, den typischen Ausdruck der Stimme, die organisch als eine besondere diesem besonderen Mund angeglichen wird. Und so wie eine Lippe, wird im anatomischen Atlas seiner Darstellung Nase, Wange, Kinn und Haar mit einer fast beängstigend genauen Akribie festgestellt, ein Detail mit dem andern auf das genaueste verzahnt, und all diese Beobachtungen, die akustischen, phonetischen, optischen und motorischen, werden im unsichtbaren Laboratorium des Künstlers dann noch einmal gegeneinander ausgewogen. Erst aus dieser phantastischen Summe von Detailbeobachtungen zieht dann

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