Stefan Zweig - Gesammelte Werke
alles Wahrseins erkannt, und wo der Dreiundzwanzigjährige wie über spiegelglatte Flächen mit dem Schneeschuh sorglos hinwegsaust, da schreckt später der verantwortungsvoll Gewordene, der wissende Wahrheitssucher entmutigt zurück. Ihm bangt vor den »Unzulänglichkeiten, vor den Unehrlichkeiten, die sich jeder Eigengeschichte unvermeidlich einschleichen«, er befürchtet, »daß, wenn sie auch keine direkte Lüge wäre, solche Selbstbiographie doch zur Lüge würde durch falsch eingesetzte Lichter, durch eine bewußt hingelenkte Helligkeit auf das Gute und Verdunkeln dessen, was darin übel war«. Und er gesteht offen: »Dann wieder, als ich beschloß, die nackte Wahrheit hinzuschreiben und keine Schlechtigkeit meines Lebens zu verhehlen, erschrak ich vor der Wirkung, die eine solche Autobiographie haben müsse.« Aber beklagen wir nicht übermäßig diesen Verlust, denn aus den Niederschriften jener Zeit, etwa der »Beichte«, wissen wir genau, daß für Tolstois Wahrheitsbedürfnis seit seiner religiösen Krise immer unvermeidlich jeder Wille zur Darstellung eine fanatische und flagellantische Lust an der Selbstgeißelung geworden war und jedes Geständnis in eine krampfige Selbstbeschimpfung umschlug. Dieser Tolstoi der letzten Jahre wollte sich längst nicht mehr darstellen, sondern nur demütigen vor den Menschen, »Dinge sagen, die er sich selber einzugestehen schämte«, und so wäre diese endgültige Selbstdarstellung mit ihrer gewaltsamen Anprangerung seiner angeblichen »Niedrigkeiten« und Sünden wahrscheinlich eine Verzerrung der Wahrheit geworden. Zudem können wir sie vollkommen entbehren, weil wir ja eine andere, und zwar lebenumfassende, zeitumspannende Autobiographie Tolstois ohnehin besitzen, die vollständigste vielleicht, die außer Goethe ein Dichter von sich gegeben, in der Summe seiner Werke, Briefe und Tagebücher. Der kleine Adelsleutnant Olenin in den »Kosaken«, der aus der Moskauer Melancholie und Unbeschäftigtheit in Beruf und Natur flüchtet, um dort sich selber zu finden, ist bis in jeden Faden seines Anzugs, jede Falte seines Gesichtes getreu der junge Artilleriekapitän Tolstoi; der grüblerische, schwerblütige Pierre Besuchow in »Krieg und Frieden« und sein späterer Bruder, der gottsuchende, glühend um den Sinn des Daseins bemühte Landjunker Lewin in »Anna Karenina« sind bis ins Physische unverkennbar Tolstoi am Vorabend seiner Krise. Niemand wird unter der Kutte des »Vater Sergius« das Ringen des Berühmten um Heiligkeit, im »Teufel« den Widerstand des alternden Tolstoi gegen ein sinnliches Abenteuer verkennen und in dem Fürsten Nechljudow, dieser merkwürdigsten seiner Figuren (sie durchschreitet sein ganzes Werk) die tief verborgene Wunschgestalt seines Wesens, den Ideal-Tolstoi, dem er all seine Absichten und ethischen Taten auflädt. Und gar jener Saryzin in »Das Licht leuchtet in der Finsternis« trägt eine so dünne Verkleidung und verrät Tolstoi so vollkommen in jeder Szene seiner häuslichen Tragödie, daß noch heute der Schauspieler immer seine Maske nimmt. Eine so weite Natur wie Tolstoi war eben genötigt, sich in eine ganze Fülle von Gestalten zu verteilen; ganz wie Goethes Gedicht bedeutet Tolstois Prosa nichts anderes als eine einzige, quer durch ein ganzes Leben hin fortgesetzte, Bild an Bild sich ergänzende große Konfession, so daß es innerhalb dieser vielfältigen Seelenwelt kaum eine einzige leere, unerforschte Stelle gibt, eine terra incognita; alle sozialen, alle familiären, alle epischen wie literarischen, zeitlichen wie metaphysischen Fragen werden erörtert; seit Goethe haben wir niemals so vollzählig und erschöpfend die geistig-sittliche Funktion eines irdischen Dichters gekannt. Und weil Tolstoi innerhalb dieser scheinbar übermenschlichen Menschlichkeit genau wie Goethe, doch durchaus den normalen, den gesunden Menschen darstellt, das vollendete Exemplar der Gattung, das ewige Ich und das universale Wir, so empfinden wir – abermals wie bei Goethe – seine Biographie als eine vollendete Form des sich vollendenden Lebens.
Krise und Verwandlung
Das wichtigste Ereignis im Leben eines Menschen ist der Augenblick, wo er sich seines Ichs bewußt wird; die Folgen dieses Ereignisses können die wohltätigsten oder die schrecklichsten sein.
November 1898
J ede Gefährdung wird zu Gnade, jede Hemmung zu Hilfe und Heiltrieb im Schöpferischen, weil sie unbekannte Kräfte der Seele gewaltsam herausfordert; nichts wird einer
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