Stefan Zweig - Gesammelte Werke
der ordnende Künstler die Wurzel, die verwirrende Fülle wird durch das Sieb der auslesenden Wahl gedrückt – so steht einer verschwenderischen Beobachtung eine sehr sparsame Verwertung der Resultate entgegen.
Denn erst, wenn alles Sinnliche geradezu geometrisch präzise festsitzt, die Physis vollendet, beginnt der Golem, der visuell konstruierte Mensch zu sprechen, zu atmen, zu leben. Immer ist bei Tolstoi die Seele, Psyche, der göttliche Schmetterling in dem tausendmaschigen Netz spinndünner Beobachtungen gefangen. Bei Dostojewski, dem Hellseher, seinem genialen Gegenspieler, setzt die Individuation genau gegenteilig ein: bei der Seele. Ihm ist die Seele das Primäre, und der Körper liegt nur lose und leicht wie ein Insektenkleid um ihren durchleuchtenden feurigen Kern. In den seligsten Sekunden kann sie ihn sogar durchbrennen und aufsteigen, auffliegen in den Äther des Gefühls, in die reine Ekstase. Bei Tolstoi, dem Klarseher, dem Wachkünstler aber kann die Seele niemals fliegen, ja nicht einmal völlig frei atmen, immer bleibt hartschalig und schwer der Körper um die Seele gehängt. Darum können auch die Beschwingtesten seiner Geschöpfe nie auf zu Gott, nie sich ganz aus dem Irdischen schwingen und weltfrei werden; sondern mühsam wie Lastträger, Schritt für Schritt, gleichsam den eigenen Leib auf den Rücken gehängt, steigen sie keuchend Stufe um Stufe zur Heiligung und Reinigung empor, immer wieder ermüdend an ihrer schweren Last und Irdischkeit. Immer sind wir bei diesem flügellosen, humorlosen Künstler daran schmerzhaft erinnert, daß wir auf enger Erde leben und von Tod umgrenzt sind, daß wir nicht fliehen können und nicht entfliehen, daß wir umringt sind media in vita von dem andrängenden Nichts. »Ich wünsche Ihnen mehr geistige Freiheit«, hat einmal seherisch Turgenjew Tolstoi geschrieben. Genau dies wünscht man seinen Menschen, etwas mehr geistige Freiheit, etwas mehr seelische Flugkraft, ein Hinwegkönnen aus dem Sachlichen und Leiblichen oder zumindest ein Träumenkönnen von reineren, klareren Welten.
Herbstkunst, so möchte man sie darum nennen: jede Kontur hebt sich messerschneideklar und scharf vom hügellosen Horizont russischer Steppe, und der bittere Duft von Welken und Vergängnis drängt von falben Wäldern her. In Tolstois Landschaft fühlt man immer herbstlich: bald wird es Winter sein, bald tritt der Tod in die Natur, bald werden alle Menschen und ebenso der ewige Mensch in uns ausgelebt haben. Eine Welt ohne Traum, ohne Wahn, ohne Lüge, eine furchtbar leere Welt und sogar eine Welt ohne Gott – den erfindet sich Tolstoi erst später aus Lebensräson, wie Kant aus Staatsräson, in seinen Kosmos hinein –, sie hat kein anderes Licht als ihre unerbittliche Wahrheit, nichts als ihre Klarheit, die gleichfalls unerbittliche. Vielleicht drückt bei Dostojewski der Seelenraum zunächst noch düsterer, schwärzer und tragischer als diese ebenmäßige Kalthelligkeit, aber Dostojewski zerschneidet manchmal seine Nächtigkeit mit Blitzen rauschartiger Verzückung, für Sekunden zumindest fahren die Herzen in visionäre Himmel empor. Die Kunst Tolstois dagegen kennt keine Trunkenheit und keinen Trost, sie ist immer bloß heilig-nüchtern, durchsichtig und unberauschend wie Wasser – in alle Tiefen kann man dank ihrer wunderbaren Durchsichtigkeit hinabblicken, aber dies Erkennen tränkt niemals die Seele mit voller Entrückung und Entzückung. Sie macht ernst und nachdenklich wie Wissenschaft mit ihrem steinernen Licht, mit ihrer bohrenden Sachlichkeit, aber sie macht nicht glücklich, die Kunst Tolstois.
Wie aber hat er selbst, der Wissendste aller, dies Gnadenlose und Ernüchternde seines strengen Augenwerks empfunden, einer Kunst ohne den vergütigenden Goldglanz des Traums, ohne die Gnade der Musik! Und im tiefsten hat er sie niemals geliebt, weil sie weder ihm noch den andern einen beglückenden, bejahenden Sinn des Lebens zu schenken wußte. Denn wie furchtbar hoffnungslos gebärdet sich das ganze Dasein vor dieser unbarmherzigen Pupille: die Seele ein zuckender kleiner Körpermechanismus inmitten der umhüllenden Raumstille des Todes, die Geschichte ein sinnloses Chaos zufallsmäßig fallender Fakten, der fleischerne Mensch ein wandelndes Skelett, für kurze Frist nur in die warme Hülle des Lebens gekleidet, und dies ganze unerklärbar ordnungslose Getriebe zwecklos wie laufendes Wasser oder welkendes Laub. Ist es da wirklich so unverständlich, daß nach dreißig
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