Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Habe mich schlecht benommen: Feigheit, Eitelkeit, Unbedachtsamkeit, Schwäche, Faulheit.« So früh, so rücksichtslos hart faßt sich schon die Knabenhand an die Gurgel, und dieser stählerne Griff läßt sechzig Jahre nicht ab; genau wie der Neunzehnjährige hat der zweiundachtzigjährige Tolstoi noch die Karbatsche für sich bereit, genau so zieht er sich im Alterstagebuch die Schimpfworte »feig, schlecht, träge« über, wenn der ermüdete Leib nicht vollkommen der spartanischen Disziplin des Willens pariert.
    Aber fast ebenso zeitig wie der frühreife Moralist verlangt auch der Künstler in Tolstoi schon nach eigenem Bildnis, und mit dreiundzwanzig Jahren beginnt er – Unikum in der Weltliteratur! – eine dreibändige Selbstbiographie. Spiegelblick ist Tolstois erster Blick. Noch hat der Jüngling nichts von der Welt erfahren und bereits wählt er sich dreiundzwanzigjährig das einzige Erlebnis, die eigene Kindheit, als Objekt. Genauso naiv, wie der zwölfjährige Dürer den Silberstift faßt, um sein mädchenschmales, von Erfahrung noch nicht zerfaltetes Kindergesicht auf ein zufälliges Blatt zu zeichnen, versucht aus Spielneugierde der flaumbärtige damalige Leutnant Tolstoi, als Artillerist verschlagen in eine kaukasische Festung, sich seine »Kindheit«, »Knabenjahre« und »Jünglingsjahre« zu erzählen. Für wen er schreibt, denkt er damals nicht und am wenigsten an Literatur, Zeitungen, Öffentlichkeit. Er gehorcht instinkthaft einem Drängen nach Selbstklärung durch Darstellung, und dieser dumpfe Trieb ist von keiner Zweckabsicht erhellt und noch weniger – wie er später fordern wird – »vom Licht der sittlichen Forderung erleuchtet«. Der kleine Offizier im Kaukasus aquarelliert aus Neugier und Langeweile sich die Bilder seiner Heimat und Kindheit auf das Papier; er weiß noch nichts von der später bei Tolstoi vorbrechenden Heilsarmeegeste, der »Beichte« und einem Willen »zum Guten«, noch müht er sich, die »Scheußlichkeiten seiner Jugend« grell warnend zu plakatieren – nein, niemandem zu Nutz, einzig aus dem naiven Spieltrieb eines halben Knaben, der eben nichts anderes erlebt hat als dies, wie er »aus einem kleinen Kind herüberglitt«, beschreibt der Dreiundzwanzigjährige seine Handvoll Dasein, die ersten Eindrücke, Vater, Mutter, die Verwandten, die Erzieher, Menschen, Tiere und Natur. Wie sternweit ist noch dies sorglose Fabulieren von der abgründigen Analyse des bewußten Schriftstellers Leo Tolstoi, der um seiner Stellung willen sich verpflichtet fühlen wird, vor der Welt als Büßer, vor den Künstlern als Künstler, vor Gott als Sünder und vor sich selbst als Beispiel der eigenen Demut zu stehen; der da erzählt, ist nichts als frischer Junker, der sich inmitten einer Fremdheit nach der warmen Umgebung des Heimischen, nach der Güte längst entschwundener Gestalten sehnt. Als dann das Unerwartete geschieht und jene absichtslose Selbstbiographie ihm einen Namen macht, unterläßt Leo Tolstoi sofort die Fortsetzung, die »Mannesjahre«; der namhafte Schriftsteller findet den Ton des Namenlosen nie wieder zurück, niemals ist auch dem reifen Meister ein so rein bildnerisches Selbstporträt mehr gelungen. Und es dauert – bei Tolstoi werden alle Zahlen weit wie das russische Land – ein Halbjahrhundert, bis der vom Jüngling spielhaft aufgenommene Gedanke einer vollständigen systematischen Selbstdarstellung den Künstler wieder beschäftigt. Aber wie hat sich dann, seiner Wandlung ins Religiöse zufolge, die Aufgabe gewandelt; wie alle seine Gedanken, so wendet Tolstoi auch das Bildnis seines Lebens einzig der ganzen Menschheit zu, damit sie an seiner »Seelenwäsche« sich selber säubere. »Eine möglichst wahrhaftige Beschreibung des eigenen Lebens besitzt großen Wert von jedem Menschen und muß für die Menschen von großem Nutzen sein«, so kündigt er programmatisch die neue Selbstschau an, und umständlich trifft der Achtzigjährige alle Vorbereitungen für diese entscheidende Rechtfertigung; aber kaum begonnen, läßt er vom Werke, obwohl er noch immer »eine solche völlig wahrheitsgetreue Selbstbiographie für nützlicher hält… als all das künstlerische Geschwätz, das zwölf Bände meiner Werke füllt und dem die Menschen von heute eine ganz unverdiente Bedeutung zuschreiben«. Denn sein Maßstab für Wahrhaftigkeit ist mit der Erkenntnis des eigenen Daseins an den Jahren gewachsen, er hat die ganze vieldeutige, abgründige und verwandlungsfähige Form

Weitere Kostenlose Bücher