Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Pantheon der großen Revolutionäre, der Machtumstürzer und Weltverwandler.
Wider seinen Wunsch und Willen: denn Tolstoi hat deutlich seine christlich-religiöse Revolution, seinen Staatsanarchismus von jeder aktiven und gewalttätigen abgesondert. Er schreibt in den »Reifen Ähren«: »Wenn wir Revolutionären begegnen, täuschen wir uns häufig in der Meinung, daß wir und sie uns berühren. Sie und auch wir rufen: keinen Staat, kein Eigentum, keine Ungleichheit und vieles andere. Dennoch besteht da ein großer Unterschied: für den Christen gibt es keinen Staat – jene aber wollen den Staat vernichten. Für den Christen gibt es kein Eigentum – jene wollen es abschaffen. Für den Christen sind alle gleich – sie wollen die Ungleichheit zerstören. Die Revolutionäre kämpfen mit der Regierung von außen, das Christentum kämpft aber gar nicht , es zerstört die Fundamente des Staates von innen.« Man sieht, Tolstoi wollte nicht den Staat mit Gewalt vernichtet wissen, sondern durch die Passivität unzähliger Einzelner, langsam in seiner Autorität geschwächt, indem sich Molekül nach Molekül, ein Individuum nach dem andern seiner Umklammerung so lange entzieht, bis endlich der Staatsorganismus infolge Entkräftung sich selbst auflöst. Der schließliche Effekt aber bleibt doch der gleiche: Zerstörung aller Autorität, und dieser Anstrengung hat Tolstoi ein Leben lang leidenschaftlich gedient. Allerdings wollte er zugleich eine neue Ordnung, eine Staatskirche dem Staat, eine humanere, brüderlichere Lebensreligion begründen, das altneue und urchristliche, das tolstoi-christliche Evangelium. Aber bei der Wertung dieser aufbauenden geistigen Leistung muß – Redlichkeit über alles! – mit dem Messer ein Schnitt gemacht werden zwischen dem genialen Kulturkritiker, dem irdischen Augengenie Tolstoi und dem verwaschenen, unzulänglichen, launenhaften, inkonsequenten Moralisten, dem Denker Tolstoi, der in einem pädagogischen Anfall nicht mehr wie in den sechziger Jahren bloß die Bauernjungen von Jasnaja Poljana in die Schule treiben, sondern ganz Europa das große Abc des einzig »richtigen« Lebens, »die« Wahrheit mit einem erschreckenden Maß von philosophischer Leichtfertigkeit eindrillen will. Kein Respekt beugt sich tief genug vor Tolstoi, solange er, der unbeflügelt Geborene, in seiner Sinnenwelt verharrt und mit seinen genialen Organen die Struktur des Menschlichen zerlegt; aber sobald er flughaft frei ins Metaphysische will, wo seine Sinne nicht mehr zupacken, sehen und saugen können, wo all diese sublimen Fangarme zwecklos im Leeren tasten, da erschrickt man geradezu über seine geistige Unbehilflichkeit. Nein, nicht vehement genug kann hier abgegrenzt werden: Tolstoi als theoretischer, als systematischer Philosoph war eine ebenso bedauerliche Selbsttäuschung wie Nietzsche, sein Polargenie, als Komponist. Genau wie Nietzsches Musikalität, die innerhalb der Sprachmelodik herrlich produktive, in selbständiger Tonsphäre, also kompositorisch, beinahe kläglich versagt, so stockt der eminente Verstand Tolstois sofort, wenn er über die sinnlich kritische Sphäre ins Theoretische, ins Abstrakte sich hinüberwagt. Man kann bis ins einzelne Werk hinein diese Scheide und Niete abtasten; in seinem sozialen Pamphlet »Was sollen wir tun« z. B. schildert der erste Teil augensinnlich, erfahrungsgemäß die Elendsquartiere Moskaus mit einer Meisterschaft, daß einem der Atem in den Lungen stockt. Niemals oder kaum jemals ist Sozialkritik genialer am irdischen Objekt demonstriert worden als in der Darstellung jener Elendsstuben und verlorener Menschen: aber kaum, daß im zweiten Teil der Utopist Tolstoi von der Diagnose zur Therapie übergeht und sachliche Verbesserungsvorschläge dozieren will, wird sofort jeder Begriff nebulos, die Konturen verwaschen, die Gedanken treten sich in ihrer Hast auf die Füße. Und diese Konfusion steigert sich von Problem zu Problem, je kühner Tolstoi sich vorwagt. Und weiß Gott, er wagt sich weit vor! Ohne jede philosophische Schulung, mit einer erschreckenden Ehrfurchtslosigkeit greift er in seinen Traktaten nach allen ewig unauflöslichen Fragen, die mit Sternketten im Unerreichbaren hangen, und »löst« sie wie Gelatine leichtflüssig auf. Denn genau wie der Ungeduldige während seiner Krise einen »Glauben« sich überwerfen wollte, rasch wie einen Pelzrock, Christ und Demütiger werden über Nacht, so läßt er in diesen Welterziehungsschriften »im Handumdrehen
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