Stefan Zweig - Gesammelte Werke
einen Wald wachsen«; und der 1878 noch selbst verzweifelt aufschrie: »Unsinn ist unser ganzes Erdenleben«, hat drei Jahre später schon seine Universaltheologie mit der Lösung aller Welträtsel für uns fertig. Selbstverständlich muß jeder Widerspruch bei solchen übereilten Konstruktionen einen Geschwinddenker stören, darum doziert Tolstoi beharrlich mit verstopften Ohren, jede Inkonsequenz überrennend und mit einer verdächtigen Hast sich selbst die restlose Lösung zubilligend. Was für ein unsicherer Glaube, der unablässig sich verpflichtet fühlt zu »beweisen«, was für ein unlogisches, unstrenges Denken, dem, sobald die Argumente fehlen, immer ein Bibelwort zur rechten Zeit sich einstellt als letzte und ausschließliche Unwiderlegbarkeit! Nein, nein, nein man kann es nicht energisch genug feststellen: die lehrhaften Traktate Tolstois gehören (trotz einiger unvermeidbar genialer Einzelheiten) – corraggio, corragio! – zu den unangenehmsten Zelotentrakten der Weltliteratur, sie sind ärgerliche Beispiele eines überhastet konfusen, hochmütig eigenwilligen und – was bei dem Wahrheitsmenschen Tolstoi geradezu erschütternd wirkt – sogar unehrlichen Denkens.
Denn tatsächlich, der allerwahrhaftigste Künstler, der edle und vorbildliche Ethiker Tolstoi, dieser große und fast heilige Mann, spielt als theoretischer Denker schlechtes und unredliches Spiel. Um die ganze geistunendliche Welt in seinem philosophischen Sack unterzubringen, beginnt er mit einem groben Taschenspielerkunststück, und zwar: vorerst alle Probleme derart zu versimpeln, bis sie dünn und handlich wie Kartenblätter werden. Er statuiert also höchst einfach zunächst einmal »den« Menschen, daraufhin »das« Gute, »das« Böse, »die« Sünde, »die« Sinnlichkeit, »die« Brüderlichkeit, »den« Glauben. Dann mischt er die Karten munter durcheinander, zückt »die« Liebe als Trumpf, und siehe, er hat gewonnen. In einem Weltstündchen ist das ganze Weltspiel, das unendlich und unlösbare, von Millionen Menschengeschlechtern gesuchte, auf dem Schreibtisch von Jasnaja Poljana gelöst, und der alte Mann staunt auf, seine Augen sind kindlich erhellt, beglückt lächeln seine greisen Lippen, er staunt und staunt, »wie einfach doch alles ist«. Unerklärlich fürwahr, daß alle Philosophen, alle Denker, die seit tausend Jahren in tausend Särgen in tausend Ländern liegen, so kraus und quälerisch ihre Sinne abmühten, statt zu merken, daß »die« ganze Wahrheit doch längst sonnenklar im Evangelium stand, vorausgesetzt freilich, daß man es wie er, Leo Nikolajewitsch, im Jahre des Herrn 1878 »zum erstenmal seit achtzehnhundert Jahren richtig verstand« und endlich die göttliche Botschaft von der »Übertünchung« gereinigt hatte. (Wahrhaftig, wortwörtlich sagt er so frevelhafte Worte!) Aber nun ist es zu Ende mit allen den Mühen und Plagen – nun müssen doch die Menschen erkennen, wie ungeheuer einfach das Leben zu leben ist: was stört, wirft man glattweg unter den Tisch, man schafft Staat, Religion, Kunst, Kultur, das Eigentum, die Ehe einfach ab, damit ist »das« Böse und »die« Sünde für immer erledigt; und wenn nun jeder einzelne mit eigner Hand die Erde pflügt und das Brot bäckt und seine Stiefel schustert, dann gibt es keinen Staat mehr und keine Religionen, nur das reine Reich Gottes auf Erden. Dann ist »Gott die Liebe und die Liebe der Zweck des Lebens«. Also weg mit allen Büchern, nicht mehr denken, nicht mehr geistig schaffen, es genügt »die« Liebe, und schon morgen kann alles verwirklicht sein, »wenn die Menschen nur wollten«.
Man scheint zu übertreiben, wenn man den nackten Inhalt der Tolstoischen Welttheologie wiedergibt. Aber leider ist’s er selbst, der in seinem Proselyteneifer so ärgerlich übertreibt. Wie schön, wie klar, wie unwidersprechlich ist sein Lebensgrundgedanke, das Evangelium der Gewaltlosigkeit: Tolstoi fordert von uns allen Nachgiebigkeit, eine geistige Demut. Er mahnt uns, um den unausweichlichen Konflikt zwischen der immer steigenden Ungleichheit der sozialen Schichten zu vermeiden der Revolution von unten zuvorzukommen, indem wir sie freiwillig von oben beginnen und durch rechtzeitige urchristliche Nachgiebigkeit die Gewalt ausschalten. Der Reiche soll seinen Reichtum, der Intellektuelle seinen Hochmut preisgeben, die Künstler ihren elfenbeinernen Turm verlassen und durch Verständlichkeit sich dem Volke nähern, wir sollen unsere Leidenschaften, unsere
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