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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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hinwegtäuschen über das vollkommen Staatsfeindliche seiner Sozialkritik. Seine Staatslehre ist die erbittertste Antistaatslehre und seit Luther der vollkommenste Bruch eines einzelnen Menschen mit dem neuen Papismus, dem Unfehlbarkeitsgedanken des Eigentums. Selbst Trotzki und Lenin sind theoretisch nicht um einen Schritt über das »Alles muß geändert werden« Tolstois hinausgegangen, und genau wie Jean-Jacques Rousseau, der »ami des hommes«, mit seinen Schriften der Französischen Revolution die Minengänge höhlte, aus denen sie dann das Königtum in die Luft schmetterte, so hat kein Russe wuchtiger die Grundfesten der zaristischen, der kapitalistischen Ordnung erschüttert und sturmreif gemacht als dieser Radikalrevolutionär, dem man bei uns, durch den patriarchalischen Bart und eine gewisse Öligkeit der Doktrin getäuscht, einzig als Sanftmutsapostel anzusehen beliebt. Allerdings: genau wie Rousseau über die Sansculotten, hätte Tolstoi sich zweifellos über die Methodik des Bolschewismus entrüstet, denn er haßte Parteien – »welche der Parteien auch siegt, sie müßte, um ihre Macht zu erhalten, nicht nur alle vorhandenen Gewaltmittel anwenden, sondern noch neue erfinden«, steht prophetisch in seinen Schriften – aber eine aufrichtige Geschichtsdarstellung wird einmal bezeugen, daß er ihr bester Wegbereiter gewesen, daß alle Bomben aller Revolutionäre nicht dermaßen unterhöhlend und autoritätserschütternd in Rußland gewirkt haben, wie die offene Auflehnung dieses Einzigen und Größten gegen die scheinbar unüberwindbaren Mächte seiner Heimat: den Zaren, die Kirche und den Besitz. Seit dieser Genialste aller Diagnostiker den unterirdischen Baufehler unserer Zivilisationskonstruktion entdeckte, nämlich, daß unser Staatsgebäude nicht auf Humanität, auf Menschengemeinschaft, sondern auf Brutalität, auf Menschenbeherrschung beruht, hat er seine ungeheure ethische Stoßkraft dreißig Jahre lang in immer wieder erneuten Attacken gegen die russische Weltordnung geworfen, Winkelried der Revolution, ohne sie zu wollen, sozialer Dynamit, zersprengende, zerstörende elementarische Urkraft, und unbewußt damit Repräsentant seiner russischen Mission. Denn zwanghaft muß alles russische Denken, um aufzubauen, vorerst radikal und bei den Wurzeln zerstören – nicht zufällig bleibt keinem seiner Künstler erspart, zuvor in die schwärzesten Schächte des lichtlosesten, weglosesten Nihilismus niederzustürzen, um dann erst aus brennendster, ekstatischer Verzweiflung sich inbrünstig wieder neue Gläubigkeiten zu erzwingen; nicht wie wir Europäer, in zaghaften Verbesserungen, in pietätvoll aufpfropfender Vorsicht, sondern brüsk wie ein Holzfäller mit dem rechten Niederreißemut der gefährlichen Experimente geht der russische Denker, der russische Dichter, der russische Tatmensch auf die Probleme los. Ein Rostopschin zögert nicht, um der Idee des Sieges willen, Moskau, dies miraculum mundi, bis auf die Hausschwellen niederzubrennen, und ebensowenig Tolstoi – hierin Savonarola gleich – das ganze Kulturgut der Menschheit, Kunst, Wissenschaft, auf den Scheiterhaufen zu verbannen, nur damit eine neue und bessere Theorie gerechtfertigt sei. Mag sein, nie ist sich vielleicht der religiöse Träumer Tolstoi der praktischen Konsequenzen seines Bildersturms bewußt geworden, nie hat er wahrscheinlich durchzurechnen gewagt, wieviel irdische Existenzen der plötzliche Einsturz solch eines himmelweiten Weltgebäudes mit sich reißen würde – er hat einzig mit aller Seelenkraft und Starrnäckigkeit seiner Überzeugung an den Säulen des sozialen Staatsgebäudes gerüttelt. Und wenn ein solcher Simson seine Fäuste reckt, neigt und beugt sich auch das riesigste Dach. Darum bleiben alle nachzüglerischen Debatten, inwieweit Tolstoi bolschewistischen Umsturz gebilligt oder befeindet hätte, überflüssig gegen das nackte Faktum, daß nichts die russische Revolution geistig so sehr gefördert hat wie die fanatischen Bußpredigten Tolstois gegen Überfluß und Besitz, die Petarden seiner Broschüren, die Bomben seiner Pamphlete. Keine Kritik der Zeit, auch jene Nietzsches nicht, der als Deutscher doch immer nur auf die Gebildeten zielte und schon durch seine dichterisch-dionysische Diktion sich jeden Masseneinfluß versperrte, hat derart seelenaufwühlend und glaubensumstürzend in die breite Volksmasse gewirkt; und wider seinen Wunsch und Willen steht Tolstois Herme für alle Zeiten im unsichtbaren

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