Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Tolstoi an keiner Antwort Genüge finden, an keinem Glauben sich befrieden und das Leben bis zum letzten Augenblick als großartig-grauenhaftes Geheimnis empfinden.
    So wird Tolstoi auf seine Frage nach dem Sinn »des Lebens« keine Antwort, sein Ansprung gegen Gott, der gierig gewaltsame, ist mißlungen. Aber dem Künstler ist ja allezeit eine Rettung gegeben, wenn er eines Zwiespalts nicht Meister wird – er kann seine Not aus sich in die Menschheit werfen und seine Seelenfrage in eine Weltfrage verwandeln, und so steigert auch Tolstoi den egoistischen Schreckensschrei seiner Krise »Was wird aus mir?« in den gewaltigeren »Was wird aus uns?« Da er seinen eigenen eigenwilligen Geist nicht überzeugen kann, will er die andern überreden. Da er sich selbst nicht zu ändern vermag, versucht er die Menschheit zu ändern. Alle Religionen aller Zeiten sind so entstanden, alle Weltverbesserungen haben sich (Nietzsche, der Durchschauendste, weiß es) aus der »Selbstflucht« eines einzigen in seiner Seele bedrohten Menschen geformt, der, um die verhängnisvolle Frage von der eigenen Brust abzuwälzen, sie zurück gegen alle wirft, Wesensunruhe in Weltunruhe verwandelnd. Er ist kein frommer und franziskanischer Christ geworden, niemals, dieser großartig leidenschaftliche Mann mit den unbelügbaren Augen, mit dem harten und heißen Herzen des Zweifels, aber er hat eben aus dem Wissen um die Qual des Unglaubens den fanatischesten Versuch unserer Neuzeit unternommen, die Welt aus nihilistischer Not zu erretten, sie gläubiger zu machen, als er jemals selber war. »Die einzige Rettung aus der Verzweiflung des Lebens ist das Hinaustragen seines Ichs in die Welt«, und dieses gequälte wahrheitsgierige Ich Tolstois wirft darum, was ihn als furchtbare Frage überfiel, der ganzen Menschheit als Warnruf und Lehre entgegen.

Die Lehre und ihr Widersinn
    Ich bin einer großen Idee nahegekommen, deren Verwirklichung ich mein ganzes Leben opfern könnte. Diese Idee ist die Gründung einer neuen Religion, der Religion Christi, aber von Glaubenssätzen und Wunden befreit.
    Jugendtagebuch, 5. März 1855
     
    A ls Grundstein dieser seiner Lehre, seiner »Botschaft« an die Menschheit setzt Tolstoi das Wort des Evangeliums »Widerstrebet nicht dem Bösen« und gibt ihm die schöpferische Auslegung: »Widerstrebet nicht dem Bösen mit Gewalt.«
    In diesem Satz liegt latent die ganze Tolstoische Ethik: diesen steinernen Katapult hat der große Kämpfer mit der ganzen oratorischen und ethischen Vehemenz seines schmerzüberspannten Gewissens so wuchtig gegen die Wand des Jahrhunderts gestoßen, daß noch heute die Erschütterung nachschwingt im halb geborstenen Gebälk. Unmöglich, die Seelenwirkung dieses Wurfs in ihrer ganzen Tragweite auszumessen: die freiwillige Waffenstreckung der Russen nach Brest-Litowsk, die non-résistance Gandhis, der pazifistische Anruf Rollands inmitten des Krieges, der heroische Widerstand unzähliger einzelner Namenloser gegen die Vergewaltigung des Gewissens, der Kampf gegen die Todesstrafe – alle diese isolierten und scheinbar zusammenhanglosen Akte des neuen Jahrhunderts danken Leo Tolstois Botschaft den energetischen Antrieb. Wo immer heute Gewalt verneint wird, sei es als Mittel, als Waffe, als Recht oder vorgeblich göttliche Einrichtung, bestimmt, was immer, unter welch immer einem Vorwande zu schützen, Nationen, Religionen, Rasse, Eigentum, allüberall, wo eine human gerichtete Sittlichkeit sich auflehnt, Blut zu vergießen – überall empfängt noch heute jeder sittliche Revolutionär von Tolstois Autorität und Inbrunst eine brüderlich bestätigende Kraft. Allorts, wo ein unabhängiges Gewissen statt der erkalteten Formeln der Kirche, der herrschgierigen Forderung des Staates, einer eingerosteten und schematisch funktionierenden Justiz die letzte Entscheidung nur dem brüderlichen Menschheitsempfinden als der einzig moralischen Instanz zuweist, darf es sich auf die vorbildliche Luthertat Tolstois berufen, der die Menschen im Menschlichen anruft, daß jeder in jedem Falle nur »mit dem Herzen« richte.
    Welches »Böse« aber, dem wir zu widerstreben haben, ohne Gewalt anzuwenden, meint nun Tolstoi? Nichts anderes als sie selbst, die absolute Gewalt, mag sie ihre Muskeln hinter dem pathetischen Kleiderkram von Volkswirtschaft, nationaler Prosperität, völkischer Aspirationen und kolonialer Expansionen verstecken, mag sie noch so geschickt Machttrieb und Bluttrieb des Menschen zu philosophischen

Weitere Kostenlose Bücher