Stefan Zweig - Gesammelte Werke
»tierische Persönlichkeit« bezähmen und statt der Gier, zu nehmen, die heiligere Fähigkeit des Gebens in uns entwickeln. Erhabene Forderungen, gewiß, uralt geheischte von allen Evangelien der Welt, ewige Forderungen, weil um des Aufstiegs der Menschheit willen ewig wieder neu zu heischende. Aber Tolstois maßlose Ungeduld begnügt sich nicht wie jene religiösen Naturen, sie als moralische Höchstleistung des einzelnen zu postulieren; er verlangt, der herrisch Ungeduldige, zornig diese Sanftmut sofort und von allen. Er fordert, daß wir auf sein religiöses Kommando hin sofort alles aufgeben, hingeben, preisgeben, womit wir gefühlsmäßig verbunden sind; er heischt (ein Sechzigjähriger) von den jungen Menschen Enthaltsamkeit (die er als Mann selbst nie geübt), von den Geistigen Gleichgültigkeit, ja Verachtung der Kunst und Intellektualität (der er selbst sein ganzes Leben gewidmet); und um uns nur ganz rasch, ganz blitzschnell zu überzeugen, an wie Nichtiges unsere Kultur sich verliert, demoliert er mit wütigen Faustschlägen unsere ganze geistige Welt. Nur um uns die vollkommene Askese verlockender zu machen, bespeit er unsere ganze gegenwärtige Kultur, unsere Künstler, unsere Dichter, unsere Technik und Wissenschaft, er greift zu knüppeligster Übertreibung, zu faustdicken Unwahrheiten, und zwar beschimpft und erniedrigt er immer zuerst sich selbst, um freien Anlauf zur Attacke gegen alle andern zu haben. So kompromittiert er die edelsten ethischen Absichten durch eine wilde Rechthaberei, der keine Übersteigerung zu maßlos, keine Täuschung zu plump ist. Oder glaubt wirklich jemand, Leo Tolstoi, den ein Leibarzt täglich behorchte und begleitete, betrachte tatsächlich die Heilkunde und die Ärzte als »unnötige Dinge«, das Lesen als eine »Sünde«, die Reinlichkeit als »überflüssigen Luxus«? Hat er, dessen Werke ein Regal füllen, wirklich als ein »unnützer Schmarotzer«, als »Blattlaus« sein Leben verbracht, wirklich in der parodistisch übertreiblichen Weise, wie er selbst es folgendermaßen schildert? »Ich esse, schwatze, höre zu, ich esse wieder, schreibe und lese, das heißt, ich rede und höre wieder zu, dann esse ich abermals, spiele, esse und rede wieder, dann esse ich nochmals und gehe ins Bett.« Ist tatsächlich solcherart »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« entstanden? Bedeutet ihm wirklich, ihm, dem die Tränen überströmen, kaum daß einer Sonaten Chopins spielt, die Musik wie bornierten Quäkern nichts als des Teufels Dudelsack? Hält er wirklich Beethoven für einen »Verführer zur Sinnlichkeit«, Shakespeares Dramen für »zweifellosen Unsinn«, Nietzsches Werk für ein »grobspuriges, sinnlos emphatisches Geschwätz«? Oder Puschkins Werke nur »dafür gut, um als Zigarettenpapier für das Volk zu dienen«? Ist ihm die Kunst, der er herrlicher als irgendeiner gedient, tatsächlich nur ein »Luxus müßiger Menschen« und der Schneider Grischa und der Schuhmacher Pjotr ihm in Wahrheit höhere ästhetische Instanz als ein Urteil Turgenjews oder Dostojewskis? Glaubt er ernstlich, er, der selbst »ein unermüdlicher Hurer in seiner Jugend war« und dann im Ehebett noch dreizehn Kinder zeugte, nun würde auf einmal, von seinen Appellen gerührt, jeder Jüngling ein Skopze werden und sich das Geschlecht verschneiden? Man sieht: er, Tolstoi, übertreibt wie ein Tollwütiger und übertreibt aus schlechtem Gewissen, damit man nicht merke, daß er sich’s mit seinen »Beweisen« doch zu billig gemacht hat. Manchmal allerdings scheint eine Ahnung, daß dieser lärmende Nonsens sich gerade durch sein Unmaß erledige, ihm selbst im kritischen Untergrund seines Bewußtseins gedämmert zu haben, »ich hege wenig Hoffnung, daß man meine Beweise akzeptiert oder auch nur ernst diskutiert«, schreibt er einmal und hat in fürchterlicher Weise recht, denn sowenig man zu Lebzeiten mit diesem angeblich Nachgiebigen diskutieren konnte – »Man kann Leo Tolstoi nicht überzeugen«, seufzt seine Frau, und »seine Eigenliebe erlaubt ihm niemals, einen Fehler einzugestehen«, berichtet seine beste Freundin –, so unsinnig täte man, Beethoven, Shakespeare gegen Tolstoi ernstlich zu verteidigen: wer Tolstoi liebt, wendet sich am besten dort ab, wo der alte Mann zu offenkundig seine logische Blöße enthüllt. Nicht eine Sekunde hat irgendein ernst zu nehmender Mensch daran gedacht, auf diese theologischen Ausbrüche Tolstois hin tatsächlich zweitausend Jahre Kampfes um
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