Stefan Zweig - Gesammelte Werke
und vaterländischen Idealen umfälschen – wir dürfen uns nicht täuschen lassen: selbst in den verlockendsten Sublimierungen dient Gewalttätigkeit immer statt der Verbrüderung der Menschheit bloß der gesteigerten Selbstbehauptung einer einzelnen Gruppe und verewigt damit die Verungleichung der Welt. Jede Gewalt meint Besitz, ein Haben und Mehrhabenwollen, darum beginnt alle Ungleichheit für Tolstoi beim Eigentum. Nicht umsonst hat der junge Adelige Stunden mit Proudhon in Brüssel verbracht: noch vor Marx postuliert Tolstoi, als der damals radikalste aller Sozialisten: »Das Eigentum ist die Wurzel alles Übels und aller Leiden, und die Gefahr eines Zusammenstoßes liegt zwischen denen, die Eigentum im Überfluß, und denen, die keines haben.« Denn um sich zu erhalten, muß der Besitz notwendigerweise defensiv und sogar aggressiv werden. Gewalt ist notwendig, um Eigentum zu erraffen, notwendig, um Besitz zu vergrößern, notwendig, um ihn zu verteidigen. So schafft das Eigentum sich den Staat zu seinem Schutze, der Staat zu seiner Selbstbehauptung wiederum organisierte Formen brachialer Gewalt, die Armee, die Justiz, »das ganze Zwingsystem, das nur dient, das Eigentum zu schützen«, und wer sich dem Staate einordnet und ihn anerkennt, wird mit seiner Seele diesem Machtprinzip hörig. Ohne es zu ahnen, dienen nach Tolstois Auffassung selbst die scheinbar unabhängigen, die geistigen Menschen im modernen Staate einzig der Besitzerhaltung einiger weniger, sogar die Kirche Christi, die »in ihrer wahren Bedeutung staatsaufhebend war«, wendet sich »mit lügnerischen Lehren« von ihrer eigensten Pflicht ab. Die Künstler wiederum, sie, die freigeborenen berufenen Anwälte des Gewissens, Verteidiger des Menschenrechts, schnitzen an ihren elfenbeinernen Türmchen und »schläfern das Gewissen ein«. Der Sozialismus versucht Arzt zu sein am Unheilbaren, die Revolutionäre, die einzigen, die in richtiger Erkenntnis die falsche Weltordnung von Grund auf zersprengen wollen, gebrauchen fehlhafterweise selbst das mörderische Mittel ihrer Gegner und verewigen das Unrecht, indem sie das Prinzip des »Bösen« unangetastet lassen, ja noch heiligen: die Gewalt.
Falsch und morsch also im Sinn dieser anarchistischen Forderungen das Fundament des Staates und unserer gegenwärtig gültigen Gesellschaftsordnung: vehement weist darum Tolstoi alle demokratischen, philanthropischen, pazifistischen und revolutionären Verbesserungen der Regierungsform als vergeblich und unzulänglich zurück. Denn keine Duma, kein Parlament und am wenigsten eine Revolution erlösen die Nation vom »Bösen« der Gewalt: ein Haus auf schwankem Grund kann nicht gestützt werden, man kann es nur verlassen und sich ein anderes erbauen. Der moderne Staat aber ruht auf dem Machtgedanken, nicht auf der Brüderlichkeit: folglich ist er für Tolstoi unwiderruflich zum Einsturz verurteilt, und alles soziale und liberale Flickwerk verlängert nur seinen Todeskampf. Nicht die staatsbürgerliche Beziehung zwischen Volk und Regierung, sondern die Menschen selbst müssen geändert werden : statt der gewaltsamen Zusammenpressung durch die Staatsmacht muß eine innigere seelische Bindung durch Brüderlichkeit jeder Völkergemeinschaft Festigkeit geben. Insolange aber diese religiöse, diese ethische Bruderschaft noch nicht die gegenwärtige Form des Zwangsbürgers ersetzt, so lange erklärt Tolstoi eine wahre Sittlichkeit nur möglich im unsichtbaren Geheimnisraum des Individualgewissens. Da der Staat identisch ist mit Gewalt, so darf sich ein ethischer Mensch nicht mit dem Staate identifizieren. Was not tut, ist eine religiöse Revolution, ein Sichlossagen jedes Gewissensmenschen von jeder Gewaltgemeinschaft. Darum stellt sich Tolstoi selbst mit entschlossenem Ruck außerhalb der Staatsformen und deklariert sich sittlich für unabhängig von jedem Pflichtgebot außer dem seines Gewissens. Er aberkennt sich »eine ausschließliche Zugehörigkeit zu irgendeinem Volke und Staate oder eine Untertanenschaft unter irgendeine Regierung«; er stößt sich freiwillig aus der orthodoxen Kirche, er verzichtet aus Prinzip auf den Appell an Justiz oder irgendeine statuierte Einrichtung der gegenwärtigen Gesellschaft, nur um nicht den Finger des »Teufels Gewaltstaat« zu fassen. Man lasse sich darum nicht durch die evangelische Sanftheit seiner Brüderlichkeitspredigten, durch die Überfärbung mit einer christlich-demütigen Diktion, die Anlehnung an das Evangelium
Weitere Kostenlose Bücher