Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wartet und wacht noch immer der ewige Leuchter, unerkannt und unversehrt, in seinem heimatlichen Grabe. Über ihn rauschten unbändig die Zeiten, Völker um Völker umstritten in Hunderten Jahren sein Land, fremde Geschlechter, andere und abermals andere, kriegten ob seinem Schlafe: ihn aber konnte kein Raub erraffen, keine Gier zerstören. Manchmal schreitet heute ein eilender Fuß über die schirmenden Schollen, manchmal rasten im Mittagsbrand Schlummernde am Wegrand, nah seinem Schlummer, aber keine Ahnung weiß um seine Nähe, und keine Neugier griff noch hinab in seine Tiefe. Wie immer Gottes Geheimnis, ruht er im Dunkel der Gezeiten, und niemand weiß: wird er ewig so ruhen, verborgen und seinem Volke verloren, das noch immer friedlos umherwandert von Fremde zu Fremde, oder wird endlich einer ihn finden an dem Tag, da sein Volk sich wieder findet, und er abermals dem befriedeten Leuchten im Tempel des Friedens.
Die Legende der dritten Taube
I n dem Buche vom Anfang der Zeit ist die Geschichte der ersten Taube erzählt und die der zweiten, die Urvater Noah aus der Arche um Botschaft sandte, als die Schleusen des Himmels sich schlossen und die Gewässer der Tiefe versiegten. Doch die Reise und das Schicksal der dritten Taube, wer hat sie gekündet? Auf dem Gipfel des Berges Ararat war das rettende Schiff gestrandet, das in seinem Schoß alles von der Sintflut verschonte Leben barg, und als des Urvaters Blick vom Maste nur Woge und Welle sah, unendliches Gewässer, da sandte er eine Taube, die erste, aus, daß sie ihm Botschaft bringe, ob irgendwo schon Land zu schauen sei unter dem entwölkten Himmel.
Die erste Taube, so wird dort erzählt, hob sich auf und spannte die Schwingen. Sie flog gen Osten und gen Westen, aber Wasser war noch überall. Nirgends fand sie Rast für ihren Flug, und allmählich begannen ihr die Flügel zu lahmen. So kehrte sie zurück zum einzigen Festen der Welt, zur Arche, und flatterte um das ruhende Schiff auf dem Berggipfel, bis Noah die Hand ausstreckte und sie heim zu sich in die Arche nahm.
Sieben Tage wartete er nun, sieben Tage, in denen kein Regen fiel und die Gewässer sanken, dann nahm er neuerlich eine Taube, die zweite, und sandte sie um Kunde. Die Taube flog aus des Morgens, und als sie wiederkam zur Vesperzeit, da trug sie als erstes Zeichen der befreiten Erde ein Ölblatt im Schnabel. So vernahm Noah, daß die Wipfel der Bäume schon über Wasser ragten und die Prüfung bestanden sei.
Nach abermals sieben Tagen sandte er wiederum eine Taube, die dritte, auf Kunde, und sie flog in die Welt. Morgens flog sie aus und kehrte doch des Abends nicht zurück, Tag um Tag harrte Noah, doch sie kam nicht wieder. Da wußte der Urvater, daß die Erde frei sei und die Wasser gesunken. Von der Taube aber, der dritten, hat er niemals wieder vernommen und auch die Menschheit nicht, nie ward ihre Legende gekündet bis in unsere Tage.
Dies aber war der dritten Taube Reise und Geschick. Des Morgens war sie von der dumpfen Kammer des Schiffes ausgeflogen, darin im Dunkel die gepreßten Tiere murrten vor Ungeduld und ein Gedränge war von Hufen und Klauen, ein wüstes Getön von Brüllen und Pfeifen und Zischen und Bellen, sie war ausgeflogen aus der Enge in die unendliche Weite, aus dem Dunkel in das Licht. Da sie aber die Schwinge nun hob in die lichtklare, vom Regen süß gewürzte Luft, wogte mit einemmal Freiheit um sie und die Gnade des Unbegrenzten. Von der Tiefe schimmerten die Wasser, wie feuchtes Moos leuchteten grün die Wälder, von den Wiesen stieg weiß der Brodem der Frühe, und das duftende Gären der Pflanzen durchsüßte die Wiesen. Glanz fiel von den metallenen Himmeln spiegelnd herab, an den Zinnen der Berge brach die steigende Sonne sich in unendlichen Morgenröten, wie rotes Blut schimmerte davon das Meer, wie heißes Blut dampfte davon die blühende Erde. Göttlich war es, dies Erwachen zu schauen, und seligen Blicks wiegte die Taube sich mit flachen Schwingen über der purpurnen Welt, über Länder und Meere flog sie dahin und ward im Träumen allmählich selber ein schwingender Traum. Wie Gott selbst sah sie als erste nun die befreite Erde, und ihres Schauens war kein Ende. Längst hatte sie Noah, den Weißbart der Arche, vergessen und seinen Auftrag, längst vergessen die Wiederkehr. Denn die Welt war ihr nun Heimat geworden und der Himmel ihr eigenstes Haus.
So flog die dritte Taube, der ungetreue Bote des Urvaters, über die leere Welt, weiter, immer weiter,
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