Stefan Zweig - Gesammelte Werke
vom Sturm ihres Glückes getragen, vom Wind ihrer seligen Unrast, weiter flog sie, immer weiter, bis die Schwingen ihr schwer wurden und bleiern das Gefieder. Die Erde zog sie nieder zu sich mit wuchtigem Zwang, immer tiefer senkten sich die matten Flügel, daß sie der feuchten Bäume Wipfel schon streiften, und am Abend des zweiten Tages ließ sie sich endlich sinken in die Tiefe eines Waldes, der noch namenlos war wie alles in jenem Anfang der Zeit. Im Dickicht des Gezweigs barg sie sich und ruhte von der luftigen Fahrt. Reisig deckte sie zu, Wind schläferte sie ein, kühl war es im Gezweige des Tags und warm in der waldigen Wohnung des Nachts. Bald vergaß sie die windigen Himmel und die Lockung der Ferne, die grüne Wölbung schloß sie ein und die Zeit wuchs ungezählt über sie.
Es war ein Wald unserer nahen Welt, den die verirrte Taube sich zur Hausung erkoren, aber noch weilten keine Menschen darin, und in dieser Einsamkeit ward sie allmählich selber zum Traum. Im Dunkel, im nachtgrünen, nistete sie, und die Jahre gingen an ihr vorüber, und es vergaß sie der Tod, denn alle jene Tiere, jeder Gattung das eine, das noch die erste Welt vor der Sintflut gesehen, sie können nicht sterben, und kein Jäger vermag etwas wider sie. Unsichtbar nisten sie in den unerforschten Falten des Erdkleids, und so diese Taube auch in der Tiefe des Waldes. Manchmal freilich kam Ahnen über sie von der Menschen Gegenwart, ein Schuß knallte und sprang hundertfach wider von den grünen Wänden, Holzfäller schlugen gegen die Stämme, daß rings das Dunkel dröhnte, das leise Lachen der Verliebten, die verschlungen ins Abseits gingen, gurrte heimlich im Gezweige, und das Singen der Kinder, die Beeren suchten, tönte dünn und fern. Die versunkene Taube, versponnen in Laub und Traum, hörte manchmal diese Stimmen der Welt, aber sie lauschte ihnen ohne Ängste und blieb in ihrem Dunkel. Einmal aber in diesen Tagen hub der ganze Wald an zu dröhnen, und es donnerte, als bräche die Erde entzwei. Durch die Luft sausten pfeifend schwarze, metallene Massen, und wo sie fielen, sprang die Erde entsetzt empor, und die Bäume brachen wie Halme. Menschen in farbigen Gewändern warfen den Tod einander zu, und die furchtbaren Maschinen schleuderten Feuer und Brand. Blitze fuhren von der Erde in die Wolken und Donner ihnen nach; es war, als wolle das Land in den Himmel springen oder der Himmel niederfallen über das Land. Die Taube fuhr auf aus ihrem Traum. Tod war über ihr und Vernichtung; wie einst die Wasser, so schwoll nun das Feuer über die Welt. Jäh spannte sie die Flügel und schwirrte empor, sich andere Heimstatt zu suchen als den stürzenden Wald: eine Stätte des Friedens.
Sie schwirrte auf und flog über unsere Welt, um Frieden zu finden, aber wohin sie flog, überall waren diese Blitze, diese Donner der Menschen, überall Krieg. Ein Meer von Feuer und Blut überschwemmte wie einstens die Erde, eine Sintflut war wieder gekommen, und hastig flügelte sie durch unsere Länder, eine Stätte der Rast zu erspähn und dann aufzuschweben zum Urvater, ihm das Ölblatt der Verheißung zu bringen. Aber nirgends war es zu finden in diesen Tagen, immer höher schwoll die Flut des Verderbens über die Menschheit, immer weiter fraß sich der Brand durch unsere Welt. Noch hat sie die Rast nicht gefunden, noch die Menschheit den Frieden nicht, und eher darf sie nicht heimkehren, nicht ruhen für alle Zeit.
Keiner hat sie gesehen, die verirrte mythische Taube, die friedensuchende, in unseren Tagen, aber doch flattert sie über unsern Häuptern, ängstlich und schon flügelmatt. Manchmal, des Nachts nur, wenn man aufschreckt aus dem Schlaf, hört man ein Rauschen oben in der Luft, ein hastiges Jagen im Dunkel, verstörten Flug und ratlose Flucht. Auf ihren Schwingen schweben all unsere schwarzen Gedanken, in ihrer Angst wogen all unsere Wünsche, und die da zwischen Himmel und Erde zitternd schwebt, die verirrte Taube, unser eigenes Schicksal kündet sie nun, der ungetreue Bote von einst, an den Urvater der Menschheit. Und wieder harrt wie vor Tausenden Jahren eine Welt, daß einer die Hand ihr entgegenbreite und erkenne, es sei genug nun der Prüfung.
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1904
E s ist schwer, des Abends durch die dunkelnden engen Straßen dieser träumerischen Stadt zu gehen, ohne sich in leise Melancholie zu verlieren, in jene süße Wehmut der letzten herbstlichen Tage, die nicht mehr die lauten Feste der Früchte haben,
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