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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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nannten und bezeichneten sie ihm alle die Orte, wo in ihren Höhlen oder im flachen Feld, gekennzeichnet nur durch gehäufte, unbehauene Steine, in ihren Gräbern die Urväter und Erzväter, die Mütter des Stamms, die Helden und Könige des Volkes ruhten, und sie rühmten die wirkende Kraft dieser heiligen Stätten. Kein Frommer versäume, sie zu besuchen, um Tröstung von ihnen zu empfangen. Dienstwillig – denn ein Ehrfurchtgebietendes ging von diesem Uralten aus, und ihre Seelen ahnten Geheimnis – erboten sie sich, ihn dahin zu führen und, sofern er es erlaube, vereint mit ihm im Gebet den unbekannten Toten zur Ruhe zu senken. Aber Benjamin lehnte um des Geheimnisses willen ihre Bereitschaft ab und entließ sie mit vielem Dank. Nur den Wirt des Rasthauses bat er, gegen gute Löhnung ihm morgens einen Knecht beizustellen, wegkundig und kräftig genug, um ein Grab an gebotener Stätte zu schaufeln, sowie ein Maultier zur Tragung des Sargs. Der Wirt versprach es: mit Sonnenaufgang würde sein eigener Knecht bereit sein und ihn geleiten, wohin er begehre.
    Diese Nacht im Rasthause zu Joppe ward die letzte des schmerzlichen Fragens und der heiligen Qual im Leben Benjamins, des Geprüften. Noch einmal wich die Sicherheit von seiner Seele, noch einmal lastete schmerzhaft und schwer die Entschließung auf ihm. Noch einmal fragte und fragte er sich, ob er wirklich im Rechte sei, dem Volk die Heimkehr und Rettung des Leuchters zu verschweigen und vorzuenthalten seinen Brüdern, welch Heiligtum er eingrübe in dies fremde Grab. Denn wenn schon vom toten Gebein, von der Urväter und Erzväter Gräber so mächtige Tröstung ausging für die Betrübten, wie beglückt erst müßte es sein, dies gejagte, getretene und in alle Winde verlorene Volk, wäre ihm nur leiseste Ahnung gelassen, daß der ewige Leuchter, dies sichtbarste Wahrzeichen seiner Einigkeit, nicht verloren sei, sondern gerettet und gesichert warte in heimischer Erde auf den Tag der endlichen Wiederkehr. »Wie darf ich die Hoffnung ihnen versagen«, stöhnte der Schlummerlose, »wie das Geheimnis für mich behalten allein, wie nehmen mit in den Tod, was Tausenden Hoffnung schenkte und Freude? Ich weiß, wie sie dürsten der Tröstung: furchtbar Geschick eines Volks, immer nur warten zu sollen auf das Dereinst und Vielleicht, immer nur stumm zu vertraun auf geschriebene Schrift und nie ein Zeichen zu fassen! Und doch, nur wenn ich schweige, bleibt der Leuchter dem Volke bewahrt! Herr, hilf meiner Not: wie tue ich recht, wie tue ich unrecht an ihnen, den Brüdern? Darf ich den Diener, den mir jener versprochen, vom Grabe rücksenden mit der tröstenden Kunde, hier ruhe ein heiliges Unterpfand? Oder soll ich stumm verharren, daß keiner des Grabes Stätte kenne denn du? Herr, entscheide für mich! Schon einmal hast du ein Zeichen gegeben! Nun gib mir ein zweites: Herr, nimm die Entschließung von mir!«
    Aber stumm blieb die Nacht und feindselig mied der Schlaf den Geprüften. Brennenden Augs lag er wach bis in den erwachenden Tag, fragend und fragend und mit jeder Frage tiefer verstrickt in das würgende Netz der Angst und Beschwerde. Und schon klärte der Osten sich, und noch immer war des alten Mannes Seele nicht klar; da trat mit bekümmertem Blick der Wirt des Rasthauses in die Kammer:
    »Verzeih, aber ich kann den wegkundigen Knecht nicht mit dir senden, wie ich gestern versprach. Hinfällig ist er plötzlich geworden des Nachts. Schaum sprang ihm zuckend vom Munde, und nun liegt er im fahrenden Fieber. Nur den andern der Knechte kann ich dir geben. Freilich, fremd ist ihm das Land und ein Stummer ist er dazu; seit seiner Geburt verschloß Gott ihm den Mund. Willst du aber vorliebnehmen mit ihm, so send’ ich den Stummen dir gern.«
    Benjamin blickte den Wirt nicht an. Er blickte nur dankbar nach oben. Antwort war ihm geworden. Ein Stummer war ihm gesandt zum Zeichen des Schweigens. Einer, der unkund war des Lands, damit ewig Geheimnis bleibe die Stätte. Nicht länger schwankte ihm mehr die Seele, und dankbar erwiderte er:
    »Sende den Stummen. Und sorge dich nicht. Ich kenne selbst meinen Weg.«
    Von morgens bis abends zog Benjamin mit seinem stummen Begleiter durch das leere Land. Hinter ihnen trottete, den Sarg quer über den Rücken gebunden, still und geduldig das Maultier. Manchmal kamen sie an Hütten vorbei, die arm und verstaubt am Wege standen, aber Benjamin hielt in keiner Rast. Und wenn ihnen Wandernde begegneten, grüßte er sie nur mit dem

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