Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
inmitten der eigenen Existenz verwirklichen müsse. Aber – und dies ist der Irrtum seines Anfangs – er meint, schon genug getan zu haben, wenn er die Durchführbarkeit seiner neuen sozialen und ethischen Forderungen in seiner Lebenshaltung nur symbolisch andeutet und ab und zu ein Zeichen prinzipieller Bereitschaft gibt. Er kleidet sich also wie ein Bauer, um den äußern Unterschied zwischen Herrn und Knecht unsichtbar zu machen; er arbeitet auf dem Felde mit Sense und Pflug und läßt sich dabei von Rjepin malen, damit jedermann schwarz auf weiß gewahren könne: Arbeit im Felde, grobe, ehrliche Arbeit um das Brot empfinde ich nicht als Schande, und niemand muß sich ihrer schämen, denn seht! ich selbst, Leo Tolstoi, der, wie ihr alle wißt, derlei nicht nötig hätte und den seine geistige Leistung vollkommen entschuldigte, ich nehme sie freudig auf mich. Er überträgt, um mit der »Sünde« des Eigentums nicht länger die Seele zu beflecken, seinen Besitz, sein Hab und Gut (damals schon mehr als eine halbe Million Rubel) an die Frau und Familie und weigert sich, von seinen Werken weiterhin noch Geld oder Geldeswert zu empfangen. Er gibt Almosen und dem fremdesten, niedersten Menschen, der ihn anspricht, seine Zeit in Besuchen und Briefen; er nimmt sich jedes Unrechts und jeder Ungerechtigkeit auf Erden mit brüderlich helfender Liebe an. Aber dennoch, bald muß er erkennen, daß noch mehr von ihm gefordert wird, denn die große grobe Masse der Gläubigen, jenes »Volk« eben, das er mit allen Sinnen seiner Seele sucht, hat kein Genügen an jenen geistig gedachten Symbolen der Demütigung, sondern fordert mehr von Leo Tolstoi: die völlige Entäußerung, das restlose Aufgehen in seinem Elend und Unglück. Wahrhaft Gläubige und Überzeugte schafft immer nur die Märtyrertat – und immer steht darum am Anfang jeder Religion ein Mann der vollkommenen Selbsthingabe – niemals aber die bloß andeutende, die versprechende Haltung. Und alles, was Tolstoi bisher tat, um seine Lehre in ihrer Erfüllbarkeit zu bekräftigen, war nie mehr als bloß Geste der Erniedrigung, ein religiös demütiger Symbolakt, vergleichbar etwa jenem, den die katholische Kirche dem Papst oder den strenggläubigen Kaisern auferlegt, daß sie am Gründonnerstage, also einmal im Jahre, zwölf Greisen die Füße waschen. Damit wird bekundet und vor dem Volke gezeigt, daß selbst die niedrigste Handhabung auch die Höchsten der Erde nicht erniedrige. Aber sowenig der Papst oder die Kaiser Österreichs und Spaniens durch diesen einmal jährlichen Akt der Bußübung sich ihrer Macht begeben und wirklich zu Badeknechten werden, sowenig wird der große Dichter und Adelsherr durch die eine Stunde mit Pfriem und Leisten zum Schuster, durch die zwei Stunden Feldarbeit schon zum Bauern, durch die Vermögensübertragung an seine Hausgenossen zum wirklichen Bettler. Tolstoi demonstrierte zuerst nur die Erfüllbarkeit seiner Lehre, aber er erfüllt sie nicht. Gerade aber dies hatte das Volk, dem Symbole (aus einem tiefen Instinkt) nicht genügen und das nur ein vollkommenes Opfer zu überzeugen vermag, von Leo Tolstoi erwartet, denn immer legen die ersten Anhänger ihres Meisters Lehre viel buchstabengenauer und strenger und wortwörtlicher aus als der Lehrer selbst. Darum jene profunde Enttäuschung, da sie, zu dem Propheten der freiwilligen Armut pilgernd, bemerken müssen, daß genau wie auf den andern Adelssitzen, die Bauern von Jasnaja Poljana weiterhin im Elend sielen, er aber, Leo Tolstoi, ganz wie vordem die Gäste als Graf im Herrenhaus herrschaftlich empfängt und somit immer noch der »Klasse von Menschen« angehört, »die durch allerlei Kunstgriffe dem Volk das Notwendige rauben«. Jene laut angekündigte Vermögensübertragung wird ihnen nicht eingängig als tatsächlicher Verzicht, sein Nichtmehrhaben nicht als Armut, sehen sie doch weiterhin den Dichter im Vollgenuß aller bisherigen Bequemlichkeit, und selbst die Stunde Ackern und Schustern vermag sie keineswegs zu überzeugen. »Was ist das für ein Mensch, der das eine predigt und das andere tut?«, murrt entrüstet ein alter Bauer, und härter noch äußern sich die Studenten und wirklichen Kommunisten über dies zweideutige Schwanken zwischen Lehre und Tat. Allmählich ergreift die Enttäuschung über seine halbe Haltung gerade die überzeugtesten Anhänger seiner Theorien: Briefe und oft pöbelhafte Angriffe mahnen immer vehementer, entweder sich zu dementieren oder endlich die

Weitere Kostenlose Bücher