Stefan Zweig - Gesammelte Werke
schmerzhafteste zu verwunden. Aber Tolstoi fürchtet keineswegs den Schmerz, im Gegenteil sogar, als echter Russe und darum Extremist dürstet er geradezu nach wirklicher Qual als dem sichtlichen Beweis seiner Wahrhaftigkeit. Er ist längst müde der Gemächlichkeit seines Daseins; das flache Familienglück, der Ruhm seiner Werke, die Ehrfurcht seiner Mitmenschen ekeln ihn an – unbewußt sehnt sich der schöpferische Mensch in ihm nach gespannterem vielfältigerem Schicksal, nach einer tieferen Vermischung mit den Urkräften der Menschheit, nach Armut, Not und dem Leiden, dessen schöpferischen Sinn er seit seiner Krise zum erstenmal erkennt. Er möchte, um die Reinheit seiner Demutslehre apostolisch zu bezeugen, das Leben des niedrigsten Menschen führen, ohne Haus, ohne Geld, ohne Familie, beschmutzt, verlaust, verachtet, vom Staat verfolgt, von der Kirche verstoßen. Er möchte im eigenen Fleisch und Bein und Hirn erleben, was er als die wichtigste und einzige seelenträchtige Form eines wahren Menschen in seinen Büchern geschildert: den Heimatlosen, Besitzlosen, den der Wind des Schicksals wie ein Herbstblatt vor sich hinjagt. Tolstoi verlangt – und hier baut die große Künstlerin Geschichte wieder eine ihrer genialen und ironischen Antithesen – aus innerstem Willen eigentlich genau nach dem Schicksal, das seinem Gegenspieler Dostojewski, diesem aber wider seinen Willen, verhängt gewesen. Denn Dostojewski erlebt alles an offensichtlichem Leiden, an Grausamkeit und Haß des Geschicks, was Tolstoi aus pädagogischem Prinzip, aus Märtyrergier gewaltsam erleben möchte. Dostojewski klebt die echte, quälende, brennende, freudenaussaugende Armut wie ein Nessushemd an, als Heimatloser schleppt er sich über alle Länder der Erde, Krankheit zerspellt seinen Körper, die Soldaten des Zaren binden ihn an den Todespfahl und werfen ihn in die Gefängnisse Sibiriens – alles, was Tolstoi zur Demonstration seiner Lehre als Märtyrer dieser Lehre durchaus erleben möchte, das ist jenem verschwenderisch zugeteilt, indes dem nach äußern, sichtbaren Leiden dürstenden Tolstoi nicht ein Tropfen Verfolgung und Armut zufällt.
Denn keine weltüberzeugende Bestätigung und Sichtbarmachung seines Leidenswillens will jemals Tolstoi gelingen. Überall sperrt ihm ein höhnisches und ironisches Schicksal den Weg zum Märtyrertum. Er möchte arm sein, sein Vermögen an die Menschheit schenken, nie mehr Geld aus seinen Schriften und Werken ziehen, aber seine Familie erlaubt ihm nicht, arm zu sein; wider seinen Willen wächst das große Vermögen ständig in seiner Hausgenossen Hand. Er möchte einsam sein; aber der Ruhm überflutet sein Haus mit Reportern und Neugierigen. Er möchte verachtet sein, aber je mehr er sich selber beschimpft und erniedrigt, je gehässiger er sein eigenes Werk herabsetzt und seine Aufrichtigkeit verdächtigt, um so ehrfürchtiger hängen die Menschen ihm an. Er möchte das Leben eines Bauern führen, in niederen rauchigen Hütten, unbekannt und ungestört, oder als Pilger und Bettler über die Straßen irren, aber die Familie umhüllt ihn mit Pflege und schiebt zu seiner Qual alle Bequemlichkeiten der Technik, die er öffentlich mißbilligt, bis in sein Zimmer hinein. Er möchte verfolgt sein, eingesperrt und geknutet – »es ist mir peinlich, in Freiheit zu leben« –, aber mit Sammetpfötchen weichen die Behörden ihm aus und begnügen sich damit, einzig seine Anhänger zu knuten und nach Sibirien zu schicken. So greift er zum Äußersten und beschimpft schließlich den Zaren, um endlich bestraft, verschickt, verurteilt zu werden, endlich einmal öffentlich die Revolte seiner Überzeugung zu büßen; jedoch Nikolaus II. entgegnet dem Beschwerde führenden Minister: »Ich bitte, Leo Tolstoi nicht anzurühren, ich habe nicht die Absicht, einen Märtyrer aus ihm zu machen.« Dies aber, gerade dies, Märtyrer seiner Überzeugung, wollte Tolstoi in den letzten Jahren durchaus werden, und gerade dies gestattet ihm das Schicksal nicht, ja, es entfaltet eine geradezu boshafte Fürsorge gegen diesen Leidenswilligen, daß ihm nur kein Leid geschehe. Wie ein Rasender, irrsinnig in seiner Gummizelle, so schlägt er im unsichtbaren Gefängnis seines Ruhms um sich; er bespeit seinen eigenen Namen, er schneidet dem Staat, der Kirche und allen Mächten grimmige Fratzen – aber man hört ihm höflich zu, den Hut in der Hand, und schont ihn als einen hochgeborenen und ungefährlichen Irren. Niemals gelingt ihm
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